Samba oder Saudade

Rio und der Amazonas sind weit, statt Karneval wird Oktoberfest gefeiert, Nebel und Regen bestimmen das Wetter – Brasiliens Süden ist anders. Das gilt auch für den Weinbau des Landes, der zwar der drittgrößte des südamerikanischen Kontinents ist, von dem aber hierzulande die wenigsten schon einmal gehört haben dürften. Obwohl das Land im Tal des Rio São Francisco das äquatornächste Weinbaugebiet der Erde besitzt, liegt die wirkliche Heimat der brasilianischen Weinkultur im äquatorfernen und südlichsten Bundesstaat Rio Grande do Sul, genauer, im Vale dos Vinhedos der gebir-
gigen Serra Gaúcha.

Nebel im Vale dos Vinhedos, dem Tal der Weinberge (vorhergehende Doppelseite) – Brasiliens Weinberge sind noch weithin von Isabella-Hybridsorten geprägt, wie hier, an der Straße zur Kellerei Casa Valduga. (Fotos: E. Supp)

Brasiliens Weinbau geht auf das 19. Jahrhundert zurück, aber noch immer ist der größte Teil der Rebflächen mit so genannten amerikanischen oder französischen Hybrid-Rebsorten, Kreuzungen aus verschiedenen, auf dem amerikanischen Kontinent beheimateten Rebsorten mit Vitis-vinifera-Sorten bestockt. Aus ihnen wurde und wird im besten Fall Traubensaft gepresst, oder aber sie wurden zu dicklich-süßen, oxidativen, für europäische Gaumen gewöhnungsbedürftigen, wenn nicht gänzlich ungenießbaren Weinen vergoren. Erst in den 1990er Jahren begann man damit, „fine wines“ aus europäischen Qualitätsrebsorten zu erzeugen.

Diese Umstellung des Weinbaus auf europäische Vinifera-Sorten wurde zu einer Frage des Überlebens für Winzer und Kellereien, nachdem die Regierung in Brasília Mitte der 1990er-Jahre beschlossen hatte, das Land für Weinimporte zu öffnen – Chile und Argentinien standen bereit, die Märkte mit ihren Roten und Weißen zu fluten, und Brasiliens Weinfreunde griffen nur allzu begierig nach den Weinen der Nachbarländer. Dass paradoxerweise die einheimischen Weine im Unterschied zu den importierten mit einer Sondersteuer in Höhe von 53 Prozent belegt wurden, half auch nicht wirklich weiter – bis in die jüngste Vergangenheit stammten zwei von drei in Brasilien getrunkenen Flaschen aus dem Ausland. „Das größte Problem des brasilianischen Weinbaus sind die Brasilianer“, lautete ein geflügeltes Wort, das man immer wieder zu hören bekam.

Toskana? Steiermark? Franken? Burgund? Alles falsch! Der Weinbau in Brasiliens Süden hat wenig von Samba und Saudade, dafür umso mehr vom fernen Europa.

Auf den internationalen Märkten wiederum hatten brasilianische Weine kaum eine Chance, wohl auch deshalb, weil eine Rebsorte, die für eine gewisse Alleinstellung – und damit auch für Erfolg – hätte sorgen können, noch heute fehlt. Wo Chile seine Carmenère hat, Australien mit Syrah alias Shiraz glänzt, Argentinien den Malbec und Südafrika den weißen Chenin blanc und den roten Pinotage haben, kann Brasilien nichts wirklich Gleichwertiges, keine wirkliche „unique selling proposition“ vorweisen.

Jahrzehnte vor den europäischen Rebsorten waren europäische Weinbauern im Bundesstaat Rio Grande do Sul eingezogen. Hier blickt man mit Stolz auf italienische Winzerfamilien, deren Vorfahren sich vor fast 150 Jahren niederließen – nur wenig später als die Deutschen, deren Spuren von Nuovo Hamburgo bis Blumenau unübersehbar sind, hübsche Fachwerkhäuser und Oktoberfeste inklusive. Es soll in der deutschstämmigen Community noch Menschen geben, die kein Wort Portugiesisch sprechen, nur das altschwäbische Idiom, mit dem der Besucher aus Deutschland auch heute noch gelegentlich begrüßt wird, auch wenn er dann vielleicht kein einziges Wort versteht.

In Bento Gonçalves, der Weinhauptstadt Brasiliens, findet einmal im Jahr eine große Verkostung der neuen Jahrgänge statt. Hunderte Weinfreunde pilgern dann auf die Serra Gaúcha und arbeiten sich in fast absoluter Stille durch die zahlreichen Weinmuster, die sie – ganz im Gegensatz zu den Gepflogenheiten manch anderer Weinbauländer – mit Sachkenntnis und vor allem Bescheidenheit bewerten.

Den Nachfahren dieser Europäer ist auch eine der spannendsten Produktkategorien des brasilianischen Weinbaus zu verdanken – die der flaschenvergorenen Schaumweine. Die brauchen sich auch vor hochwertigem Champagner nicht zu verstecken und profitieren von einer besonderen Charakteristik der hier kultivierten Weißweinsorten, Chardonnay allen voran. Dessen Weine weisen nicht selten einen auch im Vergleich zu Europa extrem hohen Anteil an Weinsäure bei gleichzeitigem fast vollständigem Fehlen von Äpfelsäure auf – trotz dieser Säurewerte glänzen sie deshalb mit ungewöhnlicher geschmacklicher Ausgewogenheit.

Die Prickler waren es auch, die als erste Erfolg bei den Konsumenten hatten. Und zwar so großen, dass in Weingütern wie Don Giovanni – das italienische Erbe ist im Namen verankert – nach einigen Jahren mit wenig überzeugenden Versuchen Rotweinreben wie Cabernet franc gerodet und durch Chardonnay oder auch Pinot noir für die Schaumweinproduktion ersetzt wurden: Die fein perlenden, gleichzeitig aber dichten, fest strukturierten und im besten Fall sogar recht komplexen Weine gehören auch heute noch zu den Stärken vieler Kellereien und Weingüter auf der Serra Gaúcha.

Dass die Brasilianer Schwierigkeiten haben, die Qualität ihrer eigenen Produkte richtig einzuschätzen, kann man anlässlich der großen Verkostung der neuen Weinjahrgänge erleben, die in jedem Frühjahr in Bento Gonçalves, der Weinhauptstadt von Rio Grande do Sul stattfindet. Wer hier inmitten von mehreren hundert Weinfreunden und -profis, die in fast absoluter Stille – schon das ist für Europäer ungewohnt – verkosten, einen dieser fruchtigen und festen Weißweine gut oder sehr gut bewertet, erntet erst einmal ungläubige Blicke. Selbst der nationale Weinführer Brasiliens verteilte lange Zeit nur Noten, bei denen man hierzulande vermutlich erst mal kontrollieren würde, ob wenigstens der Preis stimmt – im Unterschied zum vollmundigen Eigenlob, das in anderen Ländern gerne versprüht wird, eine durchaus sympathische Eigenschaft.

Nur selten blitzt auch in den Weinbergen von Rio Grande do Sul ein wenig brasilianische Exotik auf, wie im Weingut Don Giovanni mit seinen Arraucariabäumen.

Wie die Landschaft und das Klima, strahlen auch die Menschen in diesem Teil Brasiliens nicht wirklich viel Samba-Feeling, dafür aber jede Menge Bossa Nova oder „saudade“ aus – das Lebensgefühl der lusitanischen Kulturen, das deutlich mehr Traurigkeit oder Weltschmerz als flotte Sonne-Strand-und-Meer-Stimmung zeigt. Statt leichtbekleideten Hüftschwingens, was im kühlen Klima der Serra Gaúcha ohnehin nicht wirklich angebracht scheint, findet man hier eher Besinnlichkeit, mehr „Girl from Ipanema“.

Das kühle Klima sorgt auch für eines der großen Probleme im Weinbau von Rio Grande do Sul, das man als Weinfreund aus kühleren Breiten hier kaum vermuten würde: Es betrifft die phenolische Reife vor allem bei (spät reifenden) Rotweinsorten, die den Genuss so mancher Flasche zu so etwas wie einer Mutprobe werden lässt. Grüne Aromen und harsche Tannine, aus denen auch brasilianische Winzer kein Geheimnis machen, haben dann wirklich gar nichts mehr vom Samba-Feeling.

Königinnen oder Prinzessinnen, die lieber ein Glas Rotwein heben, als in Rio Samba zu tanzen: Auch diese Weinhoheiten dürfen natürlich bei der alljährlichen Verkostung in Bento Gonçalves nicht fehlen.

Wobei: Es wäre schlichtweg ungerecht, die Stillweine der Serra Gaúcha über einen so kritischen Kamm zu scheren. Denn es gibt sie auch, die Weine, vor allem Rote, die Rhythmus im Blut haben. Dabei kommt ausgerechnet eine der Großkellereien des Gebiets, die Vinicola Miolo im Vale dos Vinhedos bei Bento Gonçalves, mit ihren verschiedenen Marken dem Rhythmus und dem Lebensgefühl Brasiliens am nächsten.

In deren Weinen dominiert zwar auch das eher Ruhige, Meditative, die „saudade“, und nicht die überschäumende Freude des Sambas, wobei die Weine noch etwas zu sehr nach europäischem – manche sagen internationalem – Strickmuster gemacht wirken. Aber: Mit einer Produktpalette, die von den weißen Chardonnay, Viognier, Pinot grigio und Moscato bis zu den roten Tempranillo, Syrah, Gamay oder Cabernet sowie einigen portugiesischen Sorten reicht – Konkurrenten wie Don Querino arbeiten sogar mit ausgefallenen italienischen Varietäten wie Teroldego oder Ancelotta – tanzt die Kellerei erfolgreich auf vielen Hochzeiten. Da müsste sich doch irgendwann auch ein starker Imageträger finden lassen, der die brasilianischen Weine auch auf den europäischen Märkten zu Erfolgsprodukten werden lässt.

Von den Weinbergen der Miolo-Kellerei geht der Blick über die „Burg“ der Vinicola Cave de Pedra bis hin zu den Kirchtürmen von Monte Belo.

Dieser Artikel wurde zuerst in enos 2/2020 veröffentlicht.
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