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Die Band vom See

von Eckhard Supp

Gelegentlich nennen sie sich „aboriginal people“, auch wenn wahrscheinlich die meisten Menschen diese Bezeichnung eher mit den Ureinwohnern Australiens assoziieren würden. Ansonsten sind sie „Osoyoos“, eine „native band“, eine „first nation“ oder ein „tribe“, wie man in Kanada respektive den USA eingeborene Gesellschaften nennt. Sie leben seit Urzeiten an den Ufern des nach ihnen benannten Sees, und selbst jemand wie Donald Trump könnte sie nicht nach Mexiko, Asien oder sonstwo hin abschieben – immerhin waren sie schon hier, bevor dessen Migranten-Großvater aus der heimatlichen Pfalz ausgewiesen wurde; lange auch bevor sich der Enkel dann daran machte, dem Land seine seit nunmehr drei Jahren tagtäglich laufende „soap“ zu bescheren.[1] – zurücksteht.

Auf den ersten Blick ist das Städtchen Osoyoos am gleichnamigen See ein Urlaubsort wie so viele. Schon von weitem glitzert der See herauf zur letzten Passhöhe, über die der Highway aus Vancouver Richtung Osten geführt hat. Motorboote, Wasserskiläufer, Jetski-Fahrer bevölkern das nicht allzu breite Wasserband, das sich unweit der Grenze zu den USA zwischen den Vorläufern der Rocky Mountains dahinschlängelt. Auf beiden Seiten des Sees erstrecken sich die weiten Rebflächen des Weinbaugebiets Okanagan – Betonung auf dem zweiten, langen „a“ – Valley, des besten und auf jeden Fall größten der Provinz British Columbia und zweitgrößten ganz Kanadas.

Das hier will Indianerland sein? Eher sieht das im Sommer doch wohl nach Rentnerland aus; tatsächlich verbringen viele „best agers“ aus Kanadas Großstädten die Sommermonate hier. Und doch – am Ostufer des Sees hat ein Weingut sein Domizil errichtet, das nicht so recht in die Urlaubsidylle passt. „North America’s First Aboriginal Winery“ nennt sich die Nk’Mip Winery. Nk’Mip? Richtig ausgesprochen ist klingt das wie „Inkemiip“ mit Betonung auf der letzten Silbe und bedeutet soviel wie „der Ort, wo der Bach in den See mündet“.

Das Land, dass die europäischen Migranten den First Nations ließen, sieht heute noch so karg aus wie vor hundert und mehr Jahren. (Fotos: E. Supp)

Reben stehen im Okanagan Valley schon seit einer ganzen Weile, auch wenn sie natürlich nicht zum kulturellen Erbe der Ureinwohner zählen. Die ersten wurden 1850 von der Okanagan Mission im Gebiet der heutigen Stadt Kelowna gepflanzt; es waren meist Tafel- oder Hybridsorten, aus denen allenfalls klebrige Süßweine erzeugt werden konnten. Qualitätsrebsorten wurden erst ab den 1970er Jahren kultiviert, und damit eröffnete sich für die Osoyoos, die zuvor ihren Lebensunterhalt in den Obstplantagen jenseits der Grenze zu den USA hatten verdienen müssen – hier wird das Tal zum Okanogan (!) Valley –, die Möglichkeit, sich eine eigene Subsistenzbasis aufzubauen. Im immerhin 130 Quadratkilometer großen Reservat der „band“ auf der östlichen, der trockenen und nicht selten bis zu 40 Grad heißen Wüstenseite des Osoyoos Lake, war außer Weintrauben praktisch nichts zu kultivieren gewesen – unter anderem deshalb, weil die fruchtbareren Böden in unmittelbarer See- bzw. Flussnähe nicht zum Reservat gehörten, sondern zumeist weißen Farmern.

Justin Hall, der das beim Rundgang durch die Keller von Nk’Mip erzählt, ist Weinmacher auf Nk’Mip und Mitglied der Osoyoos Band. Es bedarf wirklich einiger Erklärungen, bevor auch Ortsfremde das Wirrwarr aus Namen und Bedeutungen durchschauen. Die Osoyoos sind eine Gruppe der Okanagan Nation Alliance, zu der weitere sieben Gruppierungen gehören, die ethnisch und linguistisch miteinander verwandt sind und auch als Küsten-Salish bezeichnet werden. Sie alle sprechen verschiedene Dialekte des Syilx’tsn, eine Sprache, die als ungewöhnlich schwierig gilt. Nur noch wenige Eingeborene sprächen, trotz der Bemühungen aus jüngerer Zeit, Syilx’tsn wieder als Schulfach einzuführen, das, was mit seinen Hauch- und Reibelauten für ungeübte Ohren wie Schweizerdeutsch klingen könnte, zuckt Hall die Achseln.

Justin Hall (o) ist ein Osoyoo und Weinmacher auf Nk‘Mip. Außer ein wenig „eingeborener“ Dekoration zeugt hier nicht viel davon, dass das Weingut den Ureinwohnern gehört. Sein Cousin Derek Bryson (u.) beklagt Jahrhunderte kultureller Deprivation.

Hall erzählt, wie die Osoyoos überhaupt zum Weinbau kamen: Initiator war der langjährige Häuptling der Osoyoos, Clarence Louie, dessen Lebensziel es war und ist, dafür zu sorgen, dass seine Leute nach Jahrhunderten wirtschaftlich wieder auf eigenen Beinen stehen konnten. Die in den 1970ern in der Umgebung entstehenden Rebflächen hatten ihn auf die Idee gebracht, auch auf Reservatsland Qualitätsrebsorten auszupflanzen, deren Trauben dann allerdings noch mehr als ein Jahrzehnt lang nicht selbst verarbeitet, sondern an Kellereien der Umgebung verkauft wurden.

1985 packte Louie eine sich bietende Gelegenheit beim Schopf: Vincor, Kanadas größte Kellereigruppe, wollte im Okanagan Valley investieren und dort auch von den Osoyoos Land pachten. Die stimmten zu, allerdings unter der Bedingung, dass Vincor auch die Finanzierung einer stammeseigenen Kellerei übernahm. Der Deal kam zustande, die Nk’Mip Winery, an der Vincor heute noch 49 Prozent hält, war geboren und gilt inzwischen als einer der besten Erzeuger der Region.

Indianisch wirkt in den modernen Kellereigebäuden erst einmal wenig. Sieht man von ein wenig „nativer“ Dekoration ab, könnte man sich in dem Betrieb samt Verkostungs- und Verkaufsraum und dazugehörigem Vier-Sterne-Hotel sowie feiner Gastronomie auch im kalifornischen Napa Valley wähnen. Im Restaurant – der Küchenchef stammt aus Singapur – ist allenfalls das Carpaccio vom Bison eine Reminiszenz an die indianische Vergangenheit. Justin Hall selbst, der Weinmacher, hat in Neuseeland Weinbau studiert, wo man ihn sich ebenfalls gut vorstellen könnte. Alles, was man glaubte, über Amerikas Eingeborene und ihre aktuelle soziale Lage zu wissen, scheint hier über den Haufen geworfen. Statt Arbeitslosigkeit und Alkoholismus strahlt hier alles Geschäftstüchtigkeit und Erfolg aus. „Unsere ‚cash cow‘“, erklärt Hall mit verschmitztem Lächeln, und zeigt auf den Campingplatz unten am See, der gerade noch mal erheblich vergrößert werden soll.

Auf der Terrasse des Restaurants der Nk‘Mip Winery könnte man sich auch im Napa Valley glauben.

Halls Cousin Derek Bryson bestätigt den Eindruck. „Im Grunde alles, was wir heute haben, unsere Namen, Familiennamen, das Geld, die Ökonomie, stammt erst aus den letzten 100 Jahren.“ Und klar, die Wirtschaftsunternehmen der Osoyoos sind nicht mehr wirklich „aboriginal“, sondern ein notwendiger Schritt in die moderne Zeit. Es ist eine wirtschaftliche Selbständigkeit um den Preis einer gewissen kulturellen Aufgabe. Dennoch! Vergleicht man die aktuelle Situation mit Weinbau, Hotel, Camping mit der Lage der Osoyoos im 1877 gegründeten, allein von der Regierung und ihren Sozialleistungen abhängigen Reservat, dann kann man sich vorstellen, dass sich hier kaum jemand den alten Zustand zurückwünscht.

„Denn“, betont Bryson, „eine andere Möglichkeit gab es ja gar nicht. Jahrhunderte kultureller Deprivation hatten ohnehin schon dazu geführt, dass wir das meiste über unsere eigene Kultur vergessen hatten.“ Bryson ist Musiker, Schlagzeuger und gleichzeitig Manager eines weiteren Teilstücks des Osoyoos-Konzerns, des architektonischen Schmuckstücks namens „Desert Culture Centre“. Er selbst steht für diese kulturelle Zerrissenheit: Der Sohn einer holländischen Mutter aus gutem Hause, ihrerseits in Indonesien gebürtig und nach der Rückkehr in die Niederlande durch den rapiden sozialen Abstieg der Familie zur Auswanderung nach Kanada gezwungen, wo sie den indianischen Vater Brysons kennenlernte, wuchs weitab vom Land seiner väterlichen Vorfahren auf und konnte auch deren Sprache erst in fortgeschrittenem Alter von einer nicht-muttersprachlichen Lehrerin lernen.

Umso überzeugter klingt das, was er den Besuchern des Zentrums von diesen Vorfahren erzählt. Es sind die Geschichten des ganz „normalen“, brutalen Zusammenstoßes der indianischen Völker Amerikas mit weißen, europäischen Eroberern. Seine Osoyoos lebten von dem, was die Natur ihnen gab, waren Sammler und Jäger. Natürlich hatten sie keine Pferde – die wurden ja erst von den Europäern eingeführt und galten ihnen als gefährliche, feindliche Tiere. Was um sie herum nach der Ankunft der neuen Siedler geschah, verstanden sie oft nicht, angefangen bei der für sie „unsichtbaren“ Grenze zwischen Kanada und den USA, die ihr Stammesgebiet zweiteilte – mit der Folge, dass viele von ihnen im Gefängnis landeten, weil sie wie in alten Zeiten von Nord nach Süd und wieder zurück wanderten. Kinder wurden aus den Familien gerissen, kamen in Internate und waren dort einem grausamen Diktat unterworfen. „Wer kämpfte, wurde umgebracht. Die Okanogan-Indianer im Süden haben es versucht, viele von ihnen haben es aber nicht überlebt. Wir hier im Norden waren weiser.“

Das architektonische Schmuckstück der Osoyoos ist das bei vielen Touristen beliebte „Desert Culture Centre“. Das Tipi vor dem Zentrum dagegen ist eher Dekoration.

Was von unserer Kultur heute noch übrig ist, ist das, was die Regierung uns erlaubte. Musik und Tanz zum Beispiel, deren Worte heute für uns ohne Gehalt sind, oft komplett stupide wirken“, redet Bryson, einmal richtig in Fahrt gekommen, sich in Rage. „Den Rest haben wir komplett vergessen. Deshalb können wir nicht mehr zurück, müssen uns anpassen. Wir haben dabei wenigstens dafür gesorgt, dass es den meisten unserer Leute gut geht. In anderen Reservaten beobachten wir jede Menge Idiotisches. Häuptlinge, die Reichtümer aufhäufen, während ihre Leute in äußerster Armut leben.“

Viele sind sie nicht mehr, die Angehörigen der Osoyoos Band, knapp 500 noch, die zumeist im Städtchen Osoyoos selbst und der Gemeinde Oliver im Norden leben. Nur noch etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung, und da sind die vielen Sommerresidenten, die Rentner, gar nicht mit eingerechnet. Immerhin haben sie mit ihrer Winery, den Hotels, dem Camping und den Restaurants wirtschaftlichen Wohlstand erreicht. Der sogar der nicht-indianischen Bevölkerung des Okanagan Valley nutzt, aus der natürlich ein Teil der Beschäftigten stammt. Und auch wenn sie ihre Nk’Mip Winery als erste und einzige „native“ Weinkellerei Kanadas vermarkten, ihre alte Kultur selbst zum Teil – zum großen Teil? – nur aus der musealen Didaktik des „Desert Culture Centre“ kennen, so können sie sich zumindest rühmen, trotz der Genozide der Vergangenheit, trotz der kulturellen wie wirtschaftlichen Herrschaft der weißen, europäischen Einwanderer wieder auf eigenen Beinen zu stehen.

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