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Cannonau – Ein Sortenkrimi mit Folgen

In der Fachliteratur ist die Sache klar: Garnacha ist eine ursprünglich spanische, genauer eine aragonesische Rebsorte, die von Nordspanien aus als Cannonau auf die italienische Insel Sardinien, später dann als Grenache nach Südfrankreich gelangte, von wo aus sie sich wiederum über die ganze Weinwelt verbreitete. Das sagt das große Rebsortenlexikon „Wine Grapes“ von Robinson, Harding und Vouillamoz, das sagt der „Brockhaus Wein“, das sagt der „Oxford Companion to Wine“, während das „Dictionnaire Encyclopédique des Cépages“ von Galet die Sorte zwar als eine der „großen französischen“ listet, sich aber bei der Frage der Herkunft vornehm zurückhält. Es ist Schulwissen – tausendfach zitiert, tausendfach gelehrt. Und doch könnte es sich dabei um waschechte „fake news“ handeln, um einen wissenschaftlichen Irrglauben. Der das behauptet, und zwar bereits seit mehr als zehn Jahren, ist Gianni Lovicu, Agronom der sardischen Agentur für landwirtschaftliche Forschung. enos hatte jetzt Gelegenheit zu einem langen Gedankenaustausch mit überraschendem Ergebnis.

In Spanien, wie hier in der Provinz Navarra, ist der Cannonau unter dem Namen Garnacha bekannt. (Fotos: E. Supp)

Gianni Lovicu zuzuhören, kann spannend sein. Spannender als ein Thriller im Kino. Dabei geht es „nur“ um Rebenkunde, um Ampelographie. Eine dröge Materie, im Extremfall zum Gähnen langweilig? Mitnichten! Lovicu beschäftigt sich mit der Herkunft einer Rebsorte, die nach bescheidenem Anfang heute zu den meistkultivierten der Welt gehört und die alleine oder im Verschnitt mit anderen von Spanien bis Australien, von Südfrankreich bis in die USA, von Italien bis nach Südafrika mehr oder weniger farbintensive, geschmacklich volle, dichte und würzige Weine hervorbringt. Aber das ist nicht alles: Lovicu glaubt auch, dass wir in vielen, scheinbar universell akzeptierten Annahmen über unsere Ursprünge irren.

Ja, der Cannonau. Er ist eine sardische Rebsorte. Seine ältesten Spuren sind in Sardinien zu finden, aber wo er ursprünglich herstammt, muss noch untersucht werden. Nach Spanien kam er erst zwei Jahrhunderte später, nach Frankreich noch später“, erst im 18. Jahrhunderts, was man auch im erwähnten Rebsortenlexikon nachlesen kann. Wo Robinson und Kollegen übrigens auch feststellen, dass die drei Sorten in Wahrheit eine sind. „Das konnte man durch eine Analyse mithilfe von DNA-Mikrosatellitenmarkern zweifelsfrei zeigen,“ bestätigt Lovicu.

Immer in Eile! Lovicu rattert seine Thesen herunter wie ein Maschinengewehr. Ihm im Detail zu folgen, verlangt Konzentration. Ein sachliches Maschinengewehr allerdings ist er, Polemik oder Spott über Kollegen, Vertreter anderer Meinungen liegen ihm fern. Und auch wenn seine Thesen sehr selbstbewusst klingen, manchmal fast zu apodiktisch: Lovicu ist kein Missionar. Er will überzeugen, nicht überwältigen. Ist Wissenschaftler, weiß, dass es wichtiger ist, immer neue Fragen zu stellen, als endgültige Antworten vorzutäuschen. „Ich glaube, ich bin überzeugt, ich meine, irgendwie, vielleicht, könnte, dürfte …“, setzt er meist vorsichtig an, so als traue er der Kraft seiner Argumente letztlich doch nicht ganz. Die allerdings haben es in sich. Dabei fing alles mit Zweifeln an, nicht etwa mit Entdeckungen oder Gewissheit. So, wie es sich eben für einen Wissenschaftler gehört, dem Zweifel immer näher sein sollten als Beweise.

Viele Weine des südlichen Rhônetals, wie beispielsweise di von Séguret oder Châ- teauneuf-du-Pape, sind stark von Grenache noir geprägt. Die weiße Variante ist eine Mutation der roten.

Lovicus Argumente waren und sind zuallererst historischer Natur. „Sardinien war für die Spanier so etwas wie ihr Vietnam“, weiß er von einem befreundeten Historiker. „Cagliari war keine Stadt, sondern eine Festung. Wurde ein Nicht-Spanier innerhalb der Mauern entdeckt, erschoss man ihn. Dito den Sarden, der eine Spanierin heiratete, oder den Spanier, der mit der Sardin erwischt wurde. Als die spanischen Schiffe vor der Schlacht von Lepanto hier Vorräte bunkerten, bunkerten sie weder Lebensmittel noch Wein. Und eine solche Besatzungsmacht soll hier spanische Reben ausgepflanzt haben?“

Ohne Atemholen geht es weiter. „Die Konquista Südamerikas, nur einige Jahrzehnte nach der Schlacht von Sanluri, in der die Spanier das ihnen zugefallene Sardinien auch militärisch unter ihre Kontrolle brachten … Warum nahmen sie da nicht auch ihre Garnacha mit? Tatsache ist doch, dass es nicht die geringste Verwandtschaft zwischen den nach Südamerika exportierten Sorten wie den Moscato-Reben oder dem Torontès einerseits und der Garnacha andererseits gibt. Genauso, wie es keine Verwandtschaft mit all den anderen Sorten gibt, die die Spanier angeblich nach Sardinien brachten, der Monica, des Carignano, des Bovale. Nichts!“

Wissenschaftliche Beweisführungen früherer Zeiten? Von den meisten hält Lovicu nicht viel. „Eine der Theorien, die der italienische Ampelograph Giuseppe di Rovasenda 1850 aufstellte, lautete, die Sorte stamme aus Andalusien und sei dort als Canocazzo bekannt gewesen. Nur war diese These von derselben wissenschaftlichen Qualität wie die legendäre Behauptung eines hohen Eisengehalts im Spinat. Ein Schreibfehler! Die Sorte, die Rovasenda meinte, hieß in Wahrheit Cañocaso und war weiß. Eine Sorte, die keinerlei genetische Verwandtschaft zur Garnacha besitzt, aber das hat bisher niemanden interessiert.“

In sardischen Quellen wird Cannonau, wie man heute weiß, erstmals um 1550 herum erwähnt. Erklärt Lovicu. Von da an taucht er in allen Dokumenten auf, die sich mit dem Weinbau der Insel befassen. 1580, 1610 … In Spanien dagegen spricht erstmals Cervantes in seiner moralischen Novelle „Lizenziat Vidriera“ 1613 von einer Garnacha. „Aber er erzählt da von einem Besuch seines Helden in einer Genueser Bar, deren Garnacha schon wieder ein Weißwein war“, ein Seufzer, „und um wirklich die ersten Erwähnungen der roten Garnacha zu finden, muss man ein spanisches Lexikon von 1730 zu Hilfe nehmen. Fast zwei Jahrhunderte nach der sardischen Erwähnung des Cannonau.“ Immerhin erkennt Lovicu an, dass Robinson und Kollegen die Sorte schon zu einem früheren Zeitpunkt in Spanien aufgespürt haben wollen. Unter ihrem damaligen Synonym Aragones bereits seit 1513, als Garnacha aber erst im 17. Jahrhundert, das heißt lange nach den ersten Erwähnungen des sardischen Cannonau. Nur: Waren die beiden Bezeichnungen schon damals Synonyme für dieselbe Sorte?

Vielleicht gelangte Garnacha alias Cannonau ja erst nach erfolgter Rekonquista, nach der Rückeroberung der lange unter islamischer Herrschaft stehenden Teile der iberischen Halbinsel durch christliche Herrscher dorthin. Überliefert ist jedenfalls, erklärt Lovicu, dass Klöster und Klerus Gesandte in viele Teile Europas schickten, um die besten Reben für die neu zu bestockenden spanischen Weinberge zu sammeln. Warum nicht auch nach Sardinien, das immerhin bis ins frühe 18. Jahrhundert der spanischen Krone gehörte?

Wahrscheinlich, und da würde Lovicu im Moment wahrscheinlich nicht einmal widersprechen, haben Robinson und Kollegen recht, wenn sie schreiben, dass es „auf der Basis der historischen Daten unmöglich ist, den Ursprung der Garnacha alias Cannonau definitiv zu bestimmen.“ Aber es gibt noch eine andere Ebene, die der biochemischen Analyse. Zwar heißt es bei Robinson, dass durch sie die Möglichkeit einer direkten Domestizierung des Cannonau aus Wildreben ausgeschlossen werden konnte. Lovicu bestätigt das, ist aber genauer. Tatsache scheint, dass zwischen dem Cannonau und den in Sardinien gefundenen Wildreben keine Verwandtschaft besteht. Aber das kann auch heißen, dass solche Wildreben in der Gegend entweder verschwunden sind, oder dass der Cannonau vielleicht doch importiert wurde – das aber nicht aus Spanien, weil auch dort noch keine Wildrebenverwandtschaft bekannt ist. „Und wenn er nach Sardinien importiert wurde, dann wiederum auf jeden Fall wesentlich früher, als sein Vorkommen in Spanien dokumentiert ist“, betont Lovicu zum wiederholten Mal.

Bedeutender noch sind zwei weitere Elemente des Puzzles, das Lovicu, inzwischen mit kleineren Pausen im Redefluss, ausbreitet. Das erste ist die Tatsache, dass die Pflanzenzellen des Cannonau biogenetisch zum Chloroplastentyp A – Chloroplasten sind Teile der Pflanzenzellen, die Chlorophyll enthalten – der vier in Weinreben präsenten Typen gehören. Es sind die der Wildreben des westlichen Mittelmeers. Während die Mehrzahl der aus dem östlichen Mittelmeer stammenden Kultursorten zu den Typen C und D zählen. Das legt eine Abstammung von Wildreben der Region und nicht von Kulturreben nahe.

Lovicu scheint zu wissen, dass er damit ein Fass aufgemacht hat. Und schiebt sofort ein zweites Resultat der biochemischen Forschung nach. Auch wenn beim Cannonau kein direkter Zusammenhang mit den Wildreben „vor Ort“ gefunden wurde, so gilt das nicht für andere sardische Rebsorten. Die damit eindeutig von Sardinien nach Spanien wanderten, nicht umgekehrt. „Bei denen ist die enge Verwandtschaft mit sardischen Wildreben nachgewiesen. So ist der sardische Muristellù zur spanischen Parraleta, der Bovale mannu oder Cagnulari zum spanischen Graciano geworden.“

Rumms! Das hat gesessen. Mit zwei knappen Halbsätzen hat Lovicu ein ganzes Gedankengebäude eingerissen, dass nicht nur die Rebforschung lange geprägt hat und noch prägt. Auch in anderen Wissenschaften wie der Anthropologie hängen viele der Theorie von der „einen Eva“ an, der einen Begründerin oder zumindest dem einen, einzigen Ursprungsort der Arten. In der Rebforschung haben das McGovern und Vouillamoz noch vor wenigen Jahren auf den Punkt gebracht, als sie den Ursprung unserer heutigen Kulturreben in Anatolien verorteten (s. dazu den Artikel von Patrick McGovern in Ausgabe 1/2016 von enos).

An vielen Ecken der Insel Sardinien findet man noch Wildreben, die sich hoch an den Bäumen emporranken.

Lovicu ist die Problematik bewusst. Er zieht dem Glauben an einen einzigen Ursprungsort der Kultursorten einen polyzentristischen Ansatz vor. „Moglie e buoi dei paesi tuoi“, kommentiert er mit einem italienischen Sprichwort. Bleibe im Lande und nähre dich redlich! Für ihn haben sich die Versuche einer Domestizierung der Wild- zur Kulturrebe unabhängig voneinander an verschiedenen Orten vollzogen. Ist es denn glaubhaft, dass nur an einem Ort die Menschen so schlau gewesen sein sollen? „Wir wissen beispielsweise, dass viele Tiere gerne fermentierte Früchte essen. Des Rauschs wegen, das haben viele Forscher gezeigt. Wenn Tiere das machen, dann macht der Mensch das doch wohl erst recht! Und hat dabei mit Sicherheit auch entdeckt, unter welchen Bedingungen die Wildrebe gute und viele Früchte trägt. Dass sich diese Kletterpflanze beispielsweise perfekt für den Pflanzenschnitt eignet. Ich erinnere daran, dass man hier in Sardinien noch bis vor 50 Jahren Wein aus wilden Rebsorten machte.“

Das „ich weiß nicht“, „ich bin mir nicht sicher“ wird häufiger. Zu vieles an der Herkunft der Rebe ist noch ungesichert. Woher dann die so überzeugt klingenden monozentristischen Theorien seiner Kollegen? Vielleicht, sinniert Lovicu, sind sie ja gar nicht wissenschaftlich zu erklären, sondern einem eher philosophisch, vielleicht gar einem religiös begründeten Bedürfnis des Menschen geschuldet, die Existenz der Arten auf „die eine“ Ursache, „den einen“ Schöpfer zurückzuführen?

Faszinierend! „Aber natürlich kann ich nicht ausschließen,“ beschwichtigt Lovicu, „dass wir morgen Dokumente finden, die vielleicht doch noch eine spanische Herkunft der Garnacha beweisen.“ Obwohl die Indizien zahlreicher werden, dass die Migration in umgekehrter Richtung stattfand. Wie die der Rebe und des Weins insgesamt. So hat man in jüngerer Zeit im östlichen Mittelmeer antike Amphoren gefunden, die eindeutig aus Sardinien stammten, die also nicht von Ost nach West, sondern von West nach Ost gereist waren. In das Bild passt die jüngste Entdeckung von Amphoren aus dem vierten Jahrtausend vor Christus in Italien, die eindeutig Weinreste enthielten – Funde aus einer Zeit also, die lange vor der bisher angenommenen Migration der Weinrebe aus dem Nahen Osten ins mittlere und westliche Mittelmeer lag.

Fragen über Fragen. Zu vieles liegt noch im Dunkel, wie selbst der Name Cannonau, zu dem es verschiedene Hypothesen gibt. Stammt er daher, dass zum Aufbrechen des Tresterhuts bei der Gärung eine lange Stange, italienisch „canna“, benutzt wurde? Oder bezieht er sich darauf, dass der Tresterhut so bewegt wurde, dass er aussah, wie eine „cannonadura“, wie die Plisseefalten, die sardische Frauen in ihre Stoffe webten? Nicht eine dieser Theorien überzeugt Lovicu. Und was die Spanier dazu brachte, der Sorte den Namen Garnacha zu geben, der eindeutig zum Wortstamm der uralten Weißweinsorte Vernaccia, Vernazza etc. gehört, der seinerseits auf das lateinische „vernaculus“, deutsch: inländisch, einheimisch, zurückgeht? Lovicu zuckt die Schultern.

Auch in Südafrika, hier Weinberge in der Nähe von Franschhoek, werden unter der französischen Bezeichnung Grenache hervorragende Weine erzeugt.

Die Zeit drängt, ein Vortrag muss gehalten werden. Zum Glück darf das auf Sardinien auch mal eine Stunde später als geplant stattfinden. Lovicu wird seine Thesen auch dort vortragen. Und versuchen, nicht nur Licht ins Dunkel der Herkunft einer der bedeutenden Rebsorten der Welt zu bringen, sondern en passant auch einigen der großen Menschheitsfragen ein Stück weit näherzukommen.

Dieser Artikel wurde zuerst in enos 4/2017 veröffentlicht.
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