„Nicht so viel!“ Zwischen den Händen von Ulrich Martin bleibt wenig Luft. „Nicht soooooo viel“, die Hände kommen einander noch näher, „glaube ich den Behauptungen der Genetiker.“ Die Stimme ist lauter geworden, die Gesten raumgreifender. Dass das Thema Martin beschäftigt, ist nicht zu übersehen. Im Garten seines Hauses, einige hundert Meter außerhalb des rheinhessischen Weindorfs Gundheim, erklärt er seine Philosophie. Es geht um Rebsorten, alte und neue, um Ampelographie, um Genanalysen, um Botanik, um Wissenschaft schlechthin.
Wenn es um sein Lieblingsthema, mehrere hundert historische Rebsorten in deutschen Weinbergen, geht, ist Ulrich Martin in seinem Element.
Im Hauptberuf ist Martin, der aus einer Gundheimer Winzerfamilie stammt, Besitzer der größten Rebschule Rheinhessens und verkauft den Winzern der Region veredelte Setzlinge der gängigsten Rebsorten, pilzresistente Neuzüchtungen, so genannte Piwi-Sorten inklusive. Sein Interesse, seine Leidenschaft allerdings gehörten, so erzählt er, schon immer alten, vergessenen Rebsorten; noch wirtschaftlich genutzten oder auch totgeglaubten, wie sie immer noch zu Dutzenden oder Hunderten in Deutschlands Weinbergen und -gärten zu finden sind.
Irgendwann wurde aus der Passion Ernst. Da hatte Martin Andreas Jung getroffen, den Geobotaniker, der sich während seiner Zeit im Institut für Rebenzüchtung Geilweilerhof im pfälzischen Siebeldingen zwischen 1998 und 2005 einen Namen beim Aufbau der Datenbank genetischer Reben-Ressourcen gemacht hatte. „Jung hat die Wissenschaft und die Forschung mitgebracht“, resümiert Ulrich Martin heute den Beginn ihrer Zusammenarbeit, „ich die Strukturen für die praktische Umsetzung.“
Im Rahmen eines von der Bundesregierung geförderten Forschungsprojekts hatte Jung damals bereits damit begonnen, die Weinberge Deutschlands nach alten Rebsorten abzusuchen. Oft kam der Zufall zu Hilfe, wie etwa, wenn eine Spaziergängerin im Brandenburgischen „merkwürdige“ Reben fand, die sich an den Bäumen rechts und links des Weges emporrankten, und diesen Fund beim zuständigen Umweltamt meldete. Das wiederum über das erwähnte Forschungsprojekt auf dem Laufenden war. Mehrere hundert verschiedener Sorten fand Jung so im Laufe der Jahrzehnte, von denen die erfolgversprechendsten in der Rebschule Martins selektiert, vervielfältigt wurden und schließlich in den Wiederanbau gingen.
Merkwürdige Namen, die Jung zumeist beim Vergleich mit alten ampelographischen Lexika entdeckte, tauchten da auf: Arbst, Blauer Muskateller, Blauer Hängling, Grüner Adelfränkisch, Hartblau, Fränkischer Burgunder, Roter Veltliner, Schwarzer Heunisch, Süßschwarz oder Schwarzblauer Riesling. Namen, von denen weder Winzer noch Weinfreunde je zuvor gehört hatten. Das Studium der alten Ampelographien brachte aber weitere Merkwürdigkeiten zutage. Da gab es nicht nur einen roten Pinot noir alias Spätburgunder mit eventuell noch einigen mutierten Unterarten, sondern es gab eine ganze Pinot-Gruppe aus 24 eigenständigen Rebsorten. Die wiederum trugen, so jedenfalls die ampelographischen Darstellungen, bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts keine ovalen Beeren wie heutzutage, sondern waren rundbeerig. Ovalbeerige Pinots besaßen keine Bedeutung – mehr noch, sie galten seinerzeit als „Gamay“.
An diesem Punkt ist Martin bei den Genmarkern angelangt, die ihn lebhafter werden lassen. Viel zu wenig, so sein Verdikt, beachteten die heutigen Protagonisten der Ampelographie die Botanik, den Habitus, laut Wikipedia das „äußere Wesen“ der Reben, wie das noch die Alten gemacht hatten und wie es auch heute noch in der Biologie der Pflanzen üblich sei. Sind die Sorten groß- oder kleinbeerig, wie steht es um ihre Farbe, um die Frostfestigkeit oder die Anfälligkeit gegenüber der Botrytis? Sind sie dick- oder dünnschalig, resistent gegen Regen?
Das Starren auf Genmarker alleine reiche zur Sortenbestimmung nicht aus. Diese Kritik richtet Ulrich Martin im Gespräch auch an Forscher wie den US-Amerikaner McGovern (enos berichtete), oder den Schweizer Vouillamoz, die, analog zur einen afrikanischen „Ur-Eva“ oder „Urmutter“ der Anthropologen, im südlichen Anatolien den einen und alleinigen Ursprungsort aller Kulturreben entdeckt haben wollen.
In ihrem inzwischen drei Folgen umfassenden Podcast auf Martins Internetportal „Historische Rebsorten“ setzen sich die beiden auch mit der Behauptung auseinander, Georgien sei die „Wiege des Weinbaus“. Nicht dass sie die historische Bedeutung Georgiens wie des Kaukasus, Nordirans oder Nordsyriens für den europäischen Weinbau leugneten. Aber die These von der „Wiege“ beantwortet für sie noch nicht die Frage, woher denn die Eltern des Babys in der Wiege kamen.
Zur Erklärung holen sie weit aus. Die Wildrebe, so ihre These, habe schon existiert, bevor sich die großen Gebirgszüge Europas und Asiens auftürmten. Während der Eiszeiten konnte sie dann allerdings nur in sogenannten Eiszeitrefugien überleben, zu denen die Gegend um das Kaspische Meer, das Schwarze Meer, der Donauraum, Kaschmir, Nordpakistan und Nordindien gehörten sowie, last but not least, China, wo heute noch die weltweit meisten Vitis-Arten vorkommen – insgesamt 50, darunter Vitis amurensis, die einzige wilde Sorte mit behaarten Blättern, wie man sie bei europäischen Kulturreben kennt.
China und vor allem das Jang-tse-Becken waren, so Jung im Pod-cast, dann auch die Geburtsstätten der Keramik, einer für das Weinmachen entscheidenden Technologie, die hier schon für die Zeit vor 9.000 Jahren nachgewiesen wurde. Die Reben – wie auch die Keramik – zogen dann zusammen mit den menschlichen Wanderungsströmen entlang der Flusstäler nach Westen; unter ständiger Hybridisierung mit dort vorkommenden Wildreben.
Wir machen eine ganz neue Tür auf“, ist sich Martin im Gespräch sicher. Auch darüber, dass Jungs Forschungen gleich eine ganze Reihe von Implikationen haben, die sich auf den ersten Blick nicht unbedingt anbieten. Martin führt die Lage „Liebfrau(en)milch“ aus seiner Nachbarschaft an, die ja ihren Ruf als Herkunft hervorragender süßer Weißweine gar nicht einer reinsortigen Riesling-Bestockung verdanke, wie man sie heute vorfindet, sondern einer Sortenmischung, von der man heute wisse, das „Grünfränkisch“ und „Grüner Wormser“ zu ihr gehörten. Durch die reinsortige Bestockung habe man den Charakter der Weine verändert, das „Terroir“ getötet. Auch für den Assmannshäuser Höllenberg gelte das, der früher mit „Schwarzblauer Riesling“ und „Fränkischer Burgunder“ bestockt war, nicht nur eindimensional mit „Spätburgunder“.
Die Fixierung auf reinsortige Weine habe das „Terroir“, den Bezug zwischen Weingeschmack und Herkunft, so Martins Schlussfolgerung, genauso zerstört wie die spätere „Nivellierung“ der Weine durch die Beschränkung auf wenige Klone und die Technisierung der Weinbergs- und Kellerarbeit, wie sie etwa auch von den Anhängern des „natural wine“ beklagt wird.
Alles schöne Theorien, mag der eine oder andere kritisieren, aber Ulrich Martin ist auch ein Mann der Praxis. Nicht nur, dass er in seiner Rebschule die historischen Fundstücke vervielfältigte, er pflanzte sie auch auf inzwischen vier bis fünf Hektar Feldern der Umgebung aus und begeisterte weitere Winzer, Gleiches zu tun. Im alten Weinkeller der Eltern im Ortskern von Gundheim fing er dann auch an, die Trauben zu vinifizieren. Daran „schuld“ waren nicht zuletzt all die neugierigen Nachbarn und Kollegen, die ihn mit Fragen löcherten, wie denn die Weine aus seinen historischen Rebsorten schmeckten oder schmecken könnten.
An Stelle der Betontanks, in denen noch die Eltern ihre Weine vinifiziert hatten, lagern da jetzt Barriques und Tonneaux, die Beschriftungen wie Süssschwarz 2020, Schwarzblauer Riesling 2019 oder Fränkischer Burgunder 2020 tragen. Martin hat sein Projekt der „Historischen Rebsorten“ zur eigenständigen Weinmarke ausgebaut und setzt auf modernes Marketing, auf Storytelling und natürlich auf die hohe Qualität seiner Weine, die ihm bereits in einer ganzen Reihe von Verkostungen und Veröffentlichungen bestätigt wurde.
Dieser Artikel wurde zuerst in enos 2/2022 veröffentlicht.
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