4 - 2017

Inhalt

Editorial

Produkte

Ortstermin

Schaumwein mit Stil

Trauben im Bier

Zimmer mit Wein

Weinkauf in ... Trier

Wüster Wein

Kopf und Schwefel

Alles ein Brei?

Cannonau - ein Sortenkrimi mit Folgen

Was macht eigentlich Monsieur Jacques?

News

Wein, Weib und Gesang

Flüssige Träume

Holunder im Watt


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Editorial

Manchmal bringt man von genau den Reisen, von denen man sich am wenigsten erhoffte, die spannendsten Resultate mit. So geschehen vor kurzem in Sardinien. Das angekündigte Programm meiner Reise war mehr als langweilig, alternative Ideen schwierig durchzusetzen. Aber was dann letztlich herauskam, war spektakulär.
Das betraf nicht nur einige der Weine, von denen in den „Flüssigen Träumen“ dieser Ausgabe die Rede ist, sondern vor allem das Interview mit Gianni Lovicu. Der stellt mit seinen Forschungen nämlich nicht nur die bisher anerkannten Annahmen über die Herkunft der Rebsorte Cannonau alias Grenache auf den Kopf, sondern gleich ein ganzes „philosophisches“ Modell von der Entwicklung der Arten.
Ansonsten geht es in diesem enos um Architektur. Klar, um Architektur auch im Weinbau. Der Schauplatz unserer Bildreportage ist Katalonien, die Heimat des Cava, mit seiner Hauptstadt Barcelona. Auch bei einer so banalen Arbeit wie dem Fotografieren von Gebäuden spürte man dort den Konflikt, die kaum verborgene Gewalt der Auseinandersetzungen. In den Straßen auffallend viel Polizei, obwohl das vielleicht auch den jüngsten Terroranschlägen geschuldet war, der Ton der Auseinandersetzungen so, dass man sich des Gefühls nicht erwehren konnte, hier arbeite auf beiden Seiten einer, der im Grunde der Gegenseite Sympathisanten in die Arme treiben möchte. Statt des Dialogs herrschte und herrscht der starrköpfige Auftritt.
Nicht nur in Spanien und nicht erst seit diesen Tagen fragt sich manch einer deshalb, ob es nicht klüger sei, Politiker in Zukunft nicht mehr entlang der klassischen Entscheidungslinien „rechts-links“, „konservativ-fortschrittlich“, „demokratisch-undemokratisch“ zu beurteilen, weil dies bei den meisten Menschen ohnehin nur wie ein primitives „gut-böse“ ankommt. Vielleicht sollte unsere Wahl viel mehr Kriterien wie Dialogbereitschaft, Sachorientiertheit, Bescheidenheit des Auftritts, Dienstbereitschaft für die „res publica“ berücksichtigen. Um dadurch Menschen, ihre Geschichten, Ambitionen, Ängste und Widersprüche in den Mittelpunkt zu rücken, wie das enos-Autorin Agnes Fazekas mit ihrem Reisebericht aus der Wüste Negev zum wiederholten Mal auf unseren Seiten vormacht.
Übrigens: enos wird es in Zukunft nicht mehr nur gedruckt, sondern auch online, auf dem Bildschirm geben. Das geht vielleicht ein wenig zu Lasten des physischen, haptischen Vergnügens, aber die Zugriffszahlen auf die schon existierende digitale Ausgabe bei readly.com haben uns davon überzeugt, dass es eine große Nachfrage für eine solche digitale Ausgabe gibt. Und der wollen wir uns nicht verschließen.
Wir stellen deshalb enos in Zukunft im Abonnement nicht nur als pdf für den großen Bildschirm zur Verfügung, sondern auch in einer für das Handy optimierten Version. Die gute Nachricht für alle bisherigen Abonnenten: Wenn Sie uns eine kurze Nachricht an redaktion@enobooks.de schicken, schalten wir Ihnen den online-Zugang kostenlos frei. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen wie immer Genuss und Kurzweil bei der Lektüre dieser Ausgabe. Im Print oder online.

(Illustration: Klaus Stuttmann)


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Produkte

Bäumchen wechsel dich

An das alte Kinder-spiel „Bäumchen wech-sel dich“ erinnern die Manöver, die jüngst in Deutschlands Weinführer-Verlagen stattfanden. Nachdem der Christian Verlag, bislang Herausgeber des Gault&Millau Weinguides, die Lizenzrechte an dem prestigeträchtigen Objekt verlor, wird dieses – wie auch der namensgleiche Restaurantguide – künftig vom Münchener ZS Verlag, einer Tochter der Hamburger Verlagsgruppe Edel AG, verlegt, wie kürzlich bekannt wurde. Gleichzeitig kündigte der Christian Verlag an, in Kooperation mit der schweizerisch-deutschen Zeitschrift Vinum einen neuen deutschen Weinführer kreieren zu wollen. Ob dieser Markt, auf dem sich mit Gault&Millau und Eichelmann schon bisher zwei Wettbewerber tummelten, einen weiteren Titel der Art verkraftet, bleibt abzuwarten. Kritische Stimmen aus der Winzerschaft weisen darauf hin, dass bereits bisher hauptsächlich Winzer und Weinhändler zu den Käufern der Weinführer gehörten, während der Markt der Verbraucher diese nur in homöopathischen Dosen annahm. Das eigentlich Pikante an den Wechseln ist allerdings die Tatsache, dass der Gault&Millau in Zukunft redaktionell von Britta Wiegelmann, einer früheren Chefredakteurin von Vinum, verantwortet werden soll, während praktisch die gesamte bisherige Mannschaft des Gault&Millau unter Führung der Chefredakteure Carsten Henn und Joel Payne zum geplanten Vinum Weinguide überlief. Wenn überhaupt in diesen Wechselspielchen eine Bedeutung zu erkennen ist, dann vielleicht die der absoluten Beliebigkeit redaktioneller Linien – und Weinbewertungen – bei dieser Art von Guides und damit letztlich die ihrer Bedeutungslosigkeit. Glaubt man den strategischen Verlautbarungen des ZS Verlags, dann steckt hinter der Übernahme der Marke Gault&Millau nicht vorrangig die Absicht, auf dem Markt der Guides Fortüne zu machen, sondern viel mehr der Wille einer strategischen Weiterentwicklung der Marke zu einer „multimedialen Premium-Plattform für alle Genuss-Themen“. Damit wäre Gault& Millau in Zukunft viel weniger ein Konkurrent für Vinum und Eichelmann als viel mehr für die Gourmetzeitschriften Feinschmecker und Falstaff.

Riecht nicht

Eine eigens für Sommeliers – und alle, die sonst mit Wein zu tun haben – entwickelte Handcreme ist das jüngste Produkt des ältesten österreichischen Weinguts. Ihre Besonderheit: Durch den vollständigen Verzicht auf Duftstoffe soll die Creme für Menschen geeignet sein, für die das Erschnuppern delikater Weinaromen zum Handwerk gehört –Sommeliers eben. Unter dem Markennamen „Die Nikolai“ vermarktet der Nikolaihof im Wachauer Mautern seit kurzem neben dieser Creme eine ganze Linie von Kosmetika aus bio-dynamischem Anbau und handwerklicher Produktion. Die Idee dahinter: Die in dem bereits seit langem bio-dynamisch arbeitenden Weingut und seinem Restaurant erzeugten, oft aber nur unvollständig genutzten Rohstoffe sollen einer sinnvollen Verwertung zugeführt werden. Im Sortiment des Betriebs finden sich seither nicht mehr nur Grüner Veltliner und Riesling, sondern auch Reinigungsmilch, Handcreme oder Augenserum, nach Angaben des Weinguts allesamt unter Verzicht auf Palmöl oder Erdölderivate auf der Basis von Traubenkernölen und pflanzlichen Zutaten der Region erzeugt. Infos unter: www.dieNikolai.at.


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Ortstermin

Saint Vincent on the road

2017 war die Gemeinde Mercurey an der Côte Chalonnaise Ausrichter des Festes, 2018 wird es Prissé im Maconnais sein. (Foto: Jean-Louis Bernuy)

Früh aufzustehen ist empfehlenswert, wenn man eine der traditionsreichsten Veranstaltungen des französischen Weinbaus miterleben will. Die Nächte sind jetzt, in den letzten Januartagen, noch kalt, und in besonders rauen Wintern bedarf es schon eines gewissen Mutes, pünktlich zu Beginn der Prozession in der einladenden Gemeinde oder den Weinbergen der Umgebung am Straßenrand zu stehen.
Bereits seit 1938 – mit kurzer Unterbrechung während des Zweiten Weltkriegs – feiern die Winzer des Burgund „die“ Saint-Vincent Tournante, das Fest ihres Schutzpatrons, Vinzenz von Valencia.

Wer die Prozession durch Dörfer und Weinbergslagen miterleben will, sollte früh aus den Federn kommen

Eigentlich geht die Tradition sogar auf das Mittelalter zurück und diente vor allem dazu, Geld für medizinische Behandlungen oder auch Begräbnisse zu sammeln. Im Zuge der französischen Revolution verboten, war das Fest dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast in Vergessenheit geraten.
Erst nach dem Krieg erlebte es einen neuen Aufschwung – inzwischen war es zur „Tournante“ geworden, fand also jedes Jahr in einem anderen Dort statt – und erlebte in den Nullerjahren einen Höhepunkt. Der zog Tausende Besucher an und kulminierte in einem riesigen Bankett – manch einer beklagte auch, in einem riesigen Gelage. Seither versuchen die Verantwortlichen der veranstaltenden Confrérie des Chevaliers du Tastevin, das Fest wieder in etwas ruhigere Bahnen zu lenken.

Schilda liegt an der Saale

Von der Straße aus fast nicht sichtbar: die spektakulären Sandsteinreliefs am Blütengrund von Großjena.

Romantisch klingt der Name – „Steinernes Bilderbuch“ –, romantisch auch die Beschreibung, die eigens an die Presse verschickt wurde. Romantisch sind die Dörfer und Städte, hier am Zusammenfluss von Saale und Unstrut die dem nördlichsten Weinbaugebiet der Republik ihren Namen leihen. Der Gipfel der Romantik aber ist die Adresse: Blütengrund. Der Ort: Großjena, ein Vorort der schönen sachsen-anhaltinischen Domstadt Naumburg.
Vor Ort aber ist Schluss mit der Romantik. Eine Handvoll hölzerner Tafeln mit aufgepinnten Schwarz-Weiß-Kopien am Straßenrand, hohe, dichte Hecken zur Rechten und zur Linken, das ist alles. Über den Hecken der flussabgewandten Straßenseite sind Trockenmauern und Rebzeilen zu sehen. Aber das berühmte steinerne Bilderbuch, die in den Sandstein gehauenen Reliefs? Nur dort, wo die Hecke ein wenig aufreißt, werden Ausschnitte jener Skulpturen sichtbar, die hier Anfang des 18. Jahrhunderts im Auftrag des Juweliers Johann Christian Steinauer von einem unbekannten Künstler in den Felssockel unter den Rebzeilen gehauen wurden.
Über eine Gesamtlänge von 150 Metern ziehen sie sich an der Unstrut entlang, zeigen biblische und weltliche Motive. Ein Schmuckstück, eine Touristenattraktion. Eigentlich! Wäre da nicht der aktuelle Besitzer des Grundstücks, der die Reliefs zwar aufwändig restaurieren lässt, Besuchern aber den Zutritt verwehrt. Die von weitem gebrüllte Frage, ob man denn das Grundstück betreten und die Skulpturen bewundern könne, wird von den beiden Restauratoren nur mit unmissverständ
lichem Kopfschütteln beantwortet. Anwohner in den benachbarten Kleingärten schmunzeln nur. Sie kennen das schon. Zutritt verboten!

Über eine Länge von 150 Metern ziehen sich die Skulpturen an der Unstrut entlang

Und die werbenden Hinweisschilder in der Umgebung? Die Mitteilungen an die Presse über diesen einmaligen Kulturschatz, über dieses größte europäische Bildrelief, das je in stehenden Fels gemeißelt wurde? Wohl alles nur ein Scherz. Wer darauf reinfällt, ist selbst schuld. Schilda liegt an der Saale, daran gibt es keinen Zweifel.

Fake Story

(Foto: Novarc Images / Alamy Stock Photo)

Irgendwie passt hier alles nicht zusammen. Weder wurde diese Replik der Casa dei Dioscuri von Pompeji, des Hauses der Dioskuren Castor und Pollux, das beim großen Vesuv-Ausbruch im Jahre 79 n. Chr. zerstört wurde, von römischen Stadtherren erbaut, noch steht sie in Pompeji oder wenigstens in Italien, und die auf dem Weinberg zwischen Haus und Fluss ausgepflanzten Reben haben mit dem alten Rom schon gleich gar nichts zu tun.

Das Aschaffenburger Pompejanum, Nachbau einer be-rühmten Villa aus der Römerzeit, wurde erst in den 1840er Jahren errichtet. Auftraggeber war der bayerische König aus dem Geschlecht der Wittelsbacher, Ludwig I., der auf der Welle der mit Goethe und Schiller beginnenden Begeisterung für die Antike – der geistigen Mutter des Klassizismus in der Architektur – den Kunstliebhabern seines Reiches die antike Kunst nahebringen wollte. Der kleine Weinberg unterhalb des Hauses, dessen Ertrag nicht in den Handel gelangt, sondern traditionell für Gäste der Stadt reserviert ist, war bis vor gut zehn Jahren mit der im nahen Würzburg aus Müller-Thurgau und Siegerrebe gezüchteten Weißweinsorte Ortega bestockt – nicht eben eine Sorte mit historischem Anspruch. Seither kultiviert man hier den deutlich attraktiveren Riesling – aber auch der hat natürlich mit der Römerzeit wenig zu tun. Da wäre der Elbling, eine der ältesten Weißweinsorten Deutschlands, die vermutlich schon von den Legionären hier eingeführt wurde, die deutlich bessere, historisch treffendere Wahl gewesen.


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Schaumwein mit Stil

von Eckhard Supp

Als die Familie Raventós, Eignerin der seit 1551 im katalanischen Sant Sadurní d‘Anoia ansässigen Cava-Kellerei Codorníu, im Jahre 1895 beschloss, ihre Kellerei ausbauen zu lassen, wandte sie sich zunächst an den Architektur-Superstar der Zeit, Antoni Gaudí y Cornet. Der hatte zu jener Zeit nicht nur bereits verschiedene Gebäude für seinen größten Fan, den katalanischen Industriellen und Mäzen Eusebi Güell, realisiert, sondern auch bereits mit den Arbeiten an der Monumentalkirche Sagrada Família begonnen, die bis heute noch nicht vollständig fertiggestellt werden konnte. Zum Leidwesen der Raventós‘ lehnte Gaudí den Auft rag aus Zeitmangel ab, empfahl aber einen seiner Schüler, den seinerzeit erst 28-jährigen Josep Puig i Cadafalch. Für Puig wurde die Arbeit an den Kellereigebäuden – darunter auch diese als „Kathedrale des Cava“ apostrophierte Monumentalstruktur – zu einer Lebensaufgabe. Puig baute dabei in unterschiedlichen Stilrichtungen – vom Modernisme, der katalanischen Form des Jugendstils, bis hin zum Noucentisme, dem Stil des beginnenden 20. Jahrhunderts.

Vom Penedès aus verbreitete sich Puigs Ruf rasch in ganz Katalonien.

Gleich drei Gebäude bzw. Gebäudekomplexe realisierte Puig i Cadafalch im Laufe der Jahrzehnte auf dem Gelände von Codorníu. Die „Kathedrale“ gleich am Eingang des Kellereigeländes, deren Beiname unter anderem auf eine Reihe von „Kirchenfenstern“ zurückgeht, die besonders von innen eine gewisse sakrale Wirkung entfalten. Dann die großen Lager- und Versektungskeller und schließlich, im Jahre 1906, das heißt schon zu Beginn der Epoche des Noucentisme, den historisierenden „Torre de Can Codorníu“, paradoxerweise auch „Torre Modernista“ genannt. Letzterer gewinnt seinen Charme vor allem durch die Einbettung in den wunderschönen Park, der zwischen den Gebäuden angelegt wurde. Vom Cava und von Sant Sadurní aus verbreitete sich Puigs Ruf so nachhaltig, dass seine Werke heute überall in Barcelona und einer Handvoll katalanischer Gemeinden zu bewundern sind. Der Großteil der Gebäude in der katalanischen Hauptstadt wurde dabei erst nach dem Start des Projekts gebaut, nur Codorníus berühmte Casa Amatller am Paseig de Grácia datiert noch aus dem 19. Jahrhundert.


Einer der in seiner Formen- und Farbensprache strengsten, vielleicht aber gerade deshalb gelungensten Bauten Josep Puigs ist die einstige Textilfabrik „Fábrica Casaramona“ direkt hinter dem Messegelände von Barcelona. Sie datiert von 1912 und gewann in jenem Jahr auch den jährlichen Architekturwettbewerb der Stadt Barcelona. Heute beherbergt das Gebäude das Museum und Auditorium „CaixaForum“.

Trotz des immer neuen Stilwandels, den das Werk Puigs über die Jahre erlebte – eine Konstante zieht sich durch sein gesamtes Werk: Türme und Türmchen. Fast scheint es, als habe sich der Katalane eher als Bauherr mittelalterlicher Burgen oder barocker Schlösser denn als „Modernist“ gesehen. Nicht zu leugnen ist allerdings der Charme, den die Türme mit ihren Häubchen ausstrahlen, sei es die Casa Terrades, alias Casa de les Punxes von 1903/05, die Königin Victoria Eugenia gewidmete Messehalle von 1929, die im Rahmen der damaligen Weltausstellung entstand, die beiden Türme der Fábrica Casaramona oder der Torre de Can Codorníu in Sant Sadurní d‘Anoia.

Wer die typischen, unverfälschten, ungeschminkten Ziegelsteinbögen des katalanischen Modernisme sucht, findet sie in den alten Versektungs- und Lagerkellern Codorníus: Backsteine, wohin das Auge blickt. In den Fassadendekorationen findet sich ein Material wieder, dessen sich auch Gaudí wiederholt bediente: Glasscherben. Während die allerdings beim Großmeister bunt und in der Regel zu schönen Mosaiken gelegt sind, hat Puig – in einer Weinkellerei bietet sich das wohl auch an – große Stücke dunkler Weinflaschen in die Fassaden einzementieren lassen.

Gaudí war der ältere der beiden und auch der Lehrer von Puig i Cadafalch, seine Farben aber wirken gelegentlich verspielter. Und auch auch moderner, zeitloser. Das sieht man besonders gut auf dem Passeig de Grácia, wo Gaudís Casa Battló und Puigs Casa Amattler direkt nebeneinander zu bewundern sind. Und nicht nur sie, denn auf knapp hundert Metern dieses Prachtboulevards hat sich praktisch alles versammelt, was im Modernisme Barcelonas architektonisch Rang und Namen hatte. Das beginnt mit Casa Lleó Morera von Lluís Domènech i Montaner, setzt sich fort über Casa Mulleras von Enric Sagnier i Villavecchia und Casa Josefina Boner von Marcel-lí Coquillar i Llofriu und endet mit den beiden Bauten von Puig und Gaudí.

Im Inneren von Gebäuden des Modernisme zu fotografieren, ist in Barcelona nicht ganz einfach. Wer bei den Verantwortlichen um eine Genehmigung bittet, bekommt oft gar nicht erst eine Antwort. Spontan geht nichts, wie etwa beim Restaurant Els Quatre Gats in der Casa Martí, einst einem beliebten Treffpunkt von Jugendstilkünstlern aus ganz Europa. Nur im Palau del Baró de Quadras, der heute das Kulturzentrum Ramon Llull beherbergt, findet sich eine verständnisvolle Seele, die das Fotografieren des wunderschönen Treppenhauses erlaubt.

Bei vielen seiner Gebäude wurde Puig offenbar von einer regelrechten, barock anmutenden Dekorationswut getrieben. Casa de les Punxes, Casa Martí, Casa Macaya und Casa Serra gehören zu den schönsten Emanationen dieser „Wut“. Für den Besucher auf den Spuren des Architekten besonders angenehm: zahlreiche seiner Gebäude liegen an der Avinguda Diagonal oder in deren Seitenstraßen. Die stellt nicht zufällig einen wichtigen Teil der von Barcelonas Stadtverwaltung ausgewiesenen „Ruta del Modernisme“ dar.

Könige? Welche Könige?

Die beiden Pavillons vor dem Palau Nacional werden dem Stil des Monumentalismus zugerechnet, der seine Inspirationen aus den Bauten des römischen Imperiums gezogen haben soll. Auch die vier großen Säulen vor den Hallen stammen von Puig.

Ob es an der politischen Großwettterlage lag? Immerhin ent standen diese Fotos in der Zeit des umstrittenen katalanischen Unabhängigkeitsreferendums. Jedenfalls schien es auf dem Gelände zwischen der Plaza d’Espanya und dem Palau Nacional, das die Messe von Barcelona beherbergt, unmöglich, zu eruieren, welche der Messehallen denn nun dem spanischen König Alfons XIII. und seiner Gattin Victoria Eugénie von Battenberg gewidmet waren. „Nein, die Namen kenne ich nicht, bei uns tragen die Pavillons Nummern“, belehrt der ältere Herr, der kontrolliert, ob auf der Plaça de Josep Puig i Cadafalch die Reste einer Musikveranstaltung entfernt wurden. Muss man denn in Katalonien die Namen spanischer Könige kennen?


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Trauben im Bier

von Eckhard Supp

Vormann-Brauerei, Hagen, Warten auf den Lastenkran an der Malzmühle

Kurz hinter Hagen ist Westfalen zu Ende. Durch das bewaldete Tal der Volme geht es in den Ortsteil Dahl, fast schon im Sauerland, und tatsächlich ist die Grenze zwischen den beiden Landschaften dann nur noch wenige hundert Meter entfernt. Hinter der langgestreckten Rechtskurve am Ortseingang taucht die Brauerei Vormann auf. Nicht wirklich imposant, eher beschaulich wirken die in die Jahre gekommenen Gebäude, fast romantisch der kleine Hof, wo Bierflaschen auf Dutzenden Paletten darauf warten, befüllt zu werden. Zu sehen ist niemand, obwohl sämtliche Türen sperrangelweit offen stehen. Landleben! Erst nach kurzer Wartezeit taucht der Grund des Besuchs auf, Sebastian Sauer, ein junger Brauer, der jetzt auch aus Weintrauben Bier machen möchte.

Unter Deutschlands Bier-, mehr noch unter seinen Weintrinkern ist Sebastian Sauer ein ziemlich Unbekannter. Ganz anders im Ausland. In den USA etwa oder Italien gilt der knapp dreißigjährige Blonde mit dem dunklen Vollbart schon fast als Star. Seine Produkte sind vor allem in Übersee so gefragt, dass sie hierzulande kaum mehr im Handel zu finden sind. Immer wieder wird er auch persönlich eingeladen, seine Kunst, das Bierbrauen, vor Ort zu zelebrieren. Gerade erst ist er aus Oregon, der Kapitale der amerikanischen Craft-Beer-Szene zurück, wo man ihn bat, eine neue Spezialität zu kreieren.

Vormann-Brauerei, Hagen, Malze warten darauf, zu Bier gebraut zu werden
Unzählige Säcke verschiedenster Malze warten bei Vormanns darauf, für Sauers Biere geschrotet und gemaischt zu werden

Während sich Länder wie die USA, wo die Bewegung einst ihren Anfang nahm, oder auch das klassische Weinland Italien – enos berichtete – nämlich schon seit Langem und mit großem Engagement der neuen Genussbewegung widmen, ruht sich der Großteil der deutschen Bierbrauer immer noch auf dem Krankenbett des so genannten Reinheitsgebots aus. Eines Gebots, bei dessen Erwähnung Liebhaber von Geschmacksvielfalt und Individualität sich allerdings meist eines herzhaften Gähnens nicht erwehren können.

In der Brauerszene der USA gilt Sauer als Star

Während Sauer die steilen Treppen vom Sudhaus zum Malzboden der Brauerei Vormann emporsteigt – eine der Braustätten, in denen er als „Untermieter“ arbeiten darf –, erzählt er seine ungewöhnliche Lebensgeschichte. Ungewöhnlich nicht nur deshalb, weil er ungewöhnliche Biere macht. Sauer hat das Brauen nämlich nie als Beruf erlernt. Eine kaufmännische Ausbildung hat er, und Bier war lange Zeit nicht mehr als eine Leidenschaft. Die allerdings begann schon in jungen Jahren. „Eigentlich fing alles damit an, dass ich als Schüler Bierdeckel sammelte, so wie andere Briefmarken“, berichtet er mit verschmitztem Lächeln.

Mit 15 begann er dann, in seiner Freizeit und in den Ferien Brauereien der Umgebung zu besuchen. Die Umgebung, das war in seinem Fall das heimatliche Dreiländereck bei Aachen, und da lag es nahe, auch Belgien zu erkunden: die Gelegenheit, Biere zu probieren, die ohne Beachtung der strengen Regeln des Reinheitsgebots gebraut worden waren. Da wurde nicht nur mit verschiedenen Malzen und Hopfensorten gearbeitet, sondern auch mit Früchten und anderen Zutaten wie etwa beim legendären, unter Zugabe von Kirschen gebrauten „Kriek“.
Mit den Besuchen fing das Probieren an, besser das fachmännische Verkosten. Wie machten sich die unterschiedlichen Zutaten geschmacklich bemerkbar? Welche Bierstile waren möglich, welche waren in seinen Augen gelungen, welche eher nicht? „Also, diese komplette theoretische Geschichte, das Kennenlernen der Sensorik, war schon sehr, sehr wichtig. Und aus diesem Theoretischen heraus entstand der Moment, als ich mir sagte, es wäre eigentlich toll, wenn ich genau solche Biere brauen könnte.“

Bierbrauer Sebastian Sauer
Hopfen und Malz und ...? Für Sauer reduziert die Beschränkung auf die nach dem Reinheitsgebot erlaubten Zutaten nur die unendlich vielfältigen, möglichen Geschmacksvarianten des Biers.

Was kam, war nicht der Kochtopf auf dem Küchenherd, wie das beim einen oder anderen Hobbybrauer der Fall ist, sondern ohne große Umwege der Einstieg ins professionelle Brauen, frei nach dem Motto: „Brauen ist kein Hexenwerk“. In der Brauerei eines Kölner Freundes setzte Sauer seinen ersten Sud an. „Im Endeffekt kommt es ja nur darauf an, sich für ein Maischverfahren zu entscheiden, die Temperatur korrekt einzuhalten, und das haben wir natürlich vorher besprochen. Und dann auch so gemacht.“ Wie selbstverständlich klingt das, so als spreche er davon, zwei Löffel Zucker in den Kaffee zu rühren.
Der professionelle Anspruch rührte auch daher, dass der Youngster 2009 bereits damit begonnen hatte, ausländische Biere zu importieren und in Deutschland zu verbreiten – ganz legal, obgleich nicht nach dem Reinheitsgebot gebraut. Denn das gilt ja nur für deutsches Bier. „Der Rest kam dann Schritt für Schritt. Learning by doing.“
Vor allem historische Bierstile interessierten ihn damals, Stile, die auch in Deutschland vor Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten gepflegt wurden, dann aber wegen des von Bayern aus ganz Deutschland erobernden Reinheitsgebots oder weil sich regionale Spezialitäten im Kampf gegen die großen nationalen Marken zunehmend schwerer taten, in Vergessenheit gerieten. Wie etwa das helle, obergärige Hannoveraner „Broyhan“ aus dem 16. Jahrhundert, das einst auch über die Grenzen der Region hinaus begehrt war.

Bier mit Pfeffer, Mango, Trauben oder anderen Früchten gefällig?

„Einen Markt für deutsche Craftbiere gab es damals in Deutschland noch nicht. Es gab vielleicht den einen oder anderen, der in der Richtung arbeitete, aber populär war das noch nicht“. Sauers Marke „Freigeist“, die er 2009 ins Leben rief, war eine der ersten Initiativen hierzulande, erst ein Jahr später fingen die „Radeberger“, Deutschlands größte, zum Oetker-Konzern gehörende Brauereigruppe mit ihren „Braufactum“-Bieren an.

„Populär ist das Craftbier bei uns denn auch wirklich erst seit etwa drei Jah-ren. Das Ganze steckt noch absolut in den Kinderschuhen, da ist viel Aufbauarbeit zu leisten“, weiß Sauer realistisch einzuschätzen. Und äußert im selben Atemzug auch Zweifel an der Marketingstrategie der Großen. „Ich kann ein Projekt wie Braufactum nicht wirklich bewerten, das wäre auch etwas vermessen. Aber nach meinem Verständnis war der Versuch, extrem hochpreisige Biermarken und -sorten in den Handel zu bringen, nicht wirklich der richtige Weg.“

Bierspezialitäten Sebastian Sauer
Die Hagener Vormann Brauerei bietet Sauer ideale Voraussetzungen zum Brauen seiner Spezialitäten. Ein wichtiges Element: Das weiche Wasser aus dem eigenen Brunnen.

Vor allem der Vergleich mit den deutlich niedrigeren Preisen der belgischen Spezialitätenbrauer, gleich hinter der Grenze, ließ ihn zweifeln. „Die haben natürlich mit Braufactum einen unheimlichen Aufwand getrieben. Unzählige gebrandete Kühlschränke, die eigens produziert und im ganzen Land verteilt wurden, die vielen tollen Broschüren, Veranstaltungen … Klar, mit dem Marketingbudget einer großen Gruppe war das machbar. Aber wer kauft sich denn auf Dauer ein Kölsch für fünf Euro die Flasche? Ein letztlich doch relativ einfaches, leicht zu trinkendes Bier, das man nicht überbewerten muss.“

Zu hochpreisige Spezialitäten sind für Sauer nicht der richtige Weg.

Sauers Ziel ist ein anderes. „Wirklich gut recherchierte, gut überlegte, besondere“ Produkte will er machen und mit denen „in einem preislich angemessenen Rahmen“ bleiben. Was das heißt? „Das hochwertigste, aufwändigste und mit den teuersten Zutaten gebraute Produkt, das wir jemals gebraut haben, stand am Ende für zehn Euro pro Flasche im Laden. Aber da waren dann auch für über 6.000 Euro Mango drin, und vom Sud blieb nur ein Drittel übrig, zwei Drittel wurden im Eisbockverfahren weggefroren. Aber ansonsten lande ich auch mit sehr ausgewählten Bieren nach langer Lagerung nur bei vier bis fünf Euro. Nicht mehr.“

Seine Früchte gibt er, anders als mancher belgische Brauer, der das erst bei der Fasslagerung des fertig gebrauten Biers macht, schon während der Hauptgärung zum Sud. „Natürlich muss man den höheren Alkoholgehalt, der sich durch den Fruchtzucker entwickelt, von Anfang an einplanen und dann das Bier eben etwas schwächer einbrauen. Das Spannende am Thema Bier ist, dass man eine unheimliche Vielfalt an Zutaten und Möglichkeiten hat, mehr noch als beim Wein.“

Als beim Wein? Ein gutes Stichwort, denn auch mit Trauben will Sauer arbeiten. Eine Erfahrung hat er bereits gemacht, in Kooperation mit einem Schweizer Brauerkollegen, der sich die Trauben wiederum von einem befreundeten Winzer liefern ließ. „Trauben sind Früchte wie alle anderen auch. Ich bin im Gespräch mit Moselwinzern, mit Pfälzern und Franken, um auch dabei eine möglichst große Vielfalt darstellen zu können.“

Eine Vielfalt, die natürlich auch von den verwende-ten Trauben abhängt. Von der Rebsorte, vom Reifegrad. „Man bekommt halt im Endeffekt jedes Mal ein anderes Produkt. Mit welchen Trauben man welches Bier brauen kann, muss dann die praktische Erfahrung zeigen. Und natürlich muss man genau schauen, welchen Traubenanteil man zum Bier gibt. Nicht, dass man am Ende einen Wein mit leichtem Gerstengeschmack hat. Es kommt vor allem darauf an, Biere zu brauen, die zu den Trauben passen. Bei Silvaner etwa benötigt man ein etwas weicheres, neutraleres Bier.“

Sebastian Sauer kontrolliert die Mühle, in der das gekeimte Malz gesiebt und geschrotet wird.

Sauer kommt ins Schwärmen. Bier, Trauben, Wein – letztlich sind es alles nur Zutaten zu seinen aben-teuerlichen Ideen. „Und wer weiß“, fügt er kurz vor dem Abschied noch hinzu, „vielleicht können meine Biere ja sogar den deutschen Wein, der etwa in den USA immer noch unterrepräsentiert ist, den Menschen dort näher bringen, ‚Oh, das ist ja ein tolles Bier! Und da ist ja sogar Moselriesling drin!‘“


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Zimmer mit Wein
Die Idee des Diogenes

Spanien, Vilafranca del Penedès, Hotel Monastrell

Dass der Philosoph Diogenes sich in Weinfässern besonders wohl gefühlt haben soll, hat über die Jahrhunderte hinweg Künstler inspiriert, zuletzt auch Wilhelm Busch. In den Zimmern des Hotels Mastinell in Vilafranca, im Herzen Kataloniens und des klassischen Anbaugebiets des Cava, fühlt man sich instinktiv an den in Kleinasien geborenen Griechen erinnert, der aus Armut und Schamlosigkeit einen Lebensstil kreierte.
Das Hotel, dessen Architektur außen wie innen an eine lange Reihe übereinander getürmte Fassreihen denken lässt, soll sicherlich alles andere als Armut ausstrahlen – im Gegenteil. Und eigentlich ist die Idee ja auch genial: Im Weinbaugebiet im Weinfass mit direktem Blick auf die Reben der umgebenden Weinfelder schlafen. Das hat Charme. Theoretisch!

Dass die Umgebung nicht unbedingt ihren Platz unter den romantischsten oder spektakulärsten Weinlandschaften der Welt verdient, sondern eher den Vorstadtcharme spanischer Kleinstädte verstrahlt, mag man akzeptieren. Immerhin bietet das den Vorteil, mitten im Geschehen zu sein – zumindest wenn man sich in der Weinwelt herumtreibt.

Vor allem sollte man die historisierenden Assoziationen nicht überziehen. Dass der Grieche ausschließlich die Elementarbedürfnisse nach Essen, Trinken, Kleidung und Sex anerkannte, muss ja nicht automatisch heißen, dass der Reisende sich quälendem Warten auf den von extremer Langsamkeit gezeichneten Frühstücksservice aussetzen sollte oder gar wollte.

Und dass Diogenes sein schamloses Treiben gern dem Blick der Öffentlichkeit preisgab, dürfte diejenigen unter den Gästen wenig interessieren, die entdecken müssen, dass der Blick nach draußen, auf die Reben, bei ungünstigen Lichtverhältnissen auch sein Pendant im schamlosen Blick von draußen nach drinnen finden kann. Die Idee war gut, jedoch … die Welt noch nicht bereit für sie?

Cava & Hotel Mastinell
Ctra. de Vilafranca del Penedès a St. Marti Sarroca, km 0,5 08720 Vilafranca del Penedès,
www.hotelmastinell.com


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Weinkauf in ... Trier
Revolution vorm Weinhaus

Das Weinhaus / Karl-Marx-Geburtshaus, Deutschland, Trier
(Foto: Frank Göbel)

Schuld war nur der … Moselwein! Schuld woran? Nun ja, ohne den offenbar vermögenden Weinbergsbesitzer (und Anwalt) als Vater im Hintergrund, ohne die ökonomische Krise, die den Moselwinzern Mitte des 19. Jahrhunderts zusetzte – böse Zungen behaupten auch, ohne den üppigen Weinkonsum, dem er zugeneigt war –, hätte Karl Marx, der Autor des „Kommunistischen Manifests“ und Verfasser der „Kritik der politischen Ökonomie“, es vielleicht aus finanziellen Gründen weder nach London geschafft, wo er „Das Kapital“ schrieb, noch sich überhaupt mit der Frage der ökonomischen Verhältnisse seiner Zeit beschäftigt. Ans Licht gekommen ist all das, als die Volksrepublik China der Stadt Trier zum 200. Geburtstag des Philosophen und Ökonomen jüngst eine Karl-Marx-Statue schenkte.

Das alles dürfte allerdings nicht der Grund dafür gewesen sein, dass sich eine der interessantesten Weinhandlungen der Stadt direkt gegenüber dem Marx’schen Geburtshaus niedergelassen hat. Das Trierer Weinhaus ist das Reich von Otti Büsching. Der aus Bremerhaven stammende Weinhändler, der als intimer Kenner des Moselweinbaus gilt, führt neben einer Handvoll großer Champagner vorwiegend Weine seiner Adoptivregion im Sortiment. Das aber auf extrem hohem Niveau: Fritz Haag, Reinhold Haart, J. J. Prüm, Schloss Lieser, Selbach-Erben, Markus Molitor, Dr. Loosen, Egon Müller, Zilliken, Van Volxem, Von Othegraven und Maximin Grünhaus sind nur einige der exzellenten Namen. Im Restaurant des Weinhauses und dem kürzlich eingerichteten separaten „Rotweinzimmer“ werden jetzt auch große Namen aus Bordeaux und Burgund, Toskana, Piemont sowie deutschen Rotweinregionen serviert.

Ob Karl Marx schon Weine von dieser Qualität trinken durfte? Und ob er dann noch zum Revolutionär geworden wäre? Wer weiß, aber vielleicht kommen ja Ihnen nach dem einen oder anderen Glas im Weinhaus angesichts der Marx-Büste am Haus gegenüber noch ganz revolutionäre Gedanken.

Das Weinhaus Trier
Brückenstr. 7, 54290 Trier
www.weinhaus-trier.de


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Wüster Wein

von Agnes Fazekas

Rota Winery, Negev, Israel

Im ersten Moment wirkt der Panzer, der ganz plötzlich über der Düne aufgetaucht ist, wie eine Luftspiegelung. Kein Wunder, denn schon jetzt am Morgen ist die Luft hier so heiß, dass sich der Asphalt auf der Straße zu verflüssigen scheint. Die Wüste sei ein Ort der Stille, der Zeitlosigkeit, der Innenansicht, sagt man. Israels Negev erinnert aber auch immer wieder an die harsche Realität des Landes, von dessen Fläche sie immerhin zwei Drittel einnimmt. Zahlreiche Straßenschilder warnen nicht nur vor freilaufenden Kamelen, sondern auch vor kreuzenden Soldaten.

Lange galt das hitzeflirrende Band der Küstenstraße von Tel Aviv in den Süden nur als mühselige Schwitzpartie auf dem Weg zu den Stränden von Eilat am Roten Meer. Negev, das war die Pufferzone der Zivilisation, es war der Standort des einzigen israelischen Kernreaktors und der Schauplatz düsterer Szenarien wie der erzwungenen Umsiedlung der hier lebenden Beduinen oder des Umgangs mit den Flüchtlingen aus Afrika.

Einer, der dafür sorgt, dass sich das freudlose Bild der Negev ändern könnte, ist Erez Rota. Rota gehört zu jener Handvoll Pionieren, die sich von brennenden Sommern und klirrenden Wintern nicht einschüchtern lassen – und die den Traum von Staatsgründer Ben Gurion leben: die Wüste zum Blühen bringen.

Israel, Negev, Rota Winery, Bewässerung
Anders als zur Zeit der Nabatäer stammt der Großteil des Wassers, das zur Bewässerung der Reben dient, aus Entsalzungsanlagen.

Wenige Kilometer hinter dem Militärstützpunkt auf der Nationalstraße 222 führt eine Schotterpiste zu Rotas Weingut. Wie ein glühender, fanatischer Erbe des Zionisten Ben Gurion wirkt der allerdings nicht gerade, wie er mit abwesendem Lächeln, nikontinfleckigen Zähnen und einem Becher sumpfig-schwarzen Cowboy-Kaffees in der Hand vor seinem Caravan sitzt. Seine „winery“, ein Sammelsurium aus Containern, Kakteen, surrealen Metallskulpturen und einem trockenen Swimmingpool, würde sich gut als Kulisse eines apokalyptischen Dramas machen.

Lange war die Negev nicht mehr als Standort eines Kernreaktors und Schauplatz düsterer Szenarien

Doch tatsächlich: An den Reben hängen Mitte September pralle, schimmernde Beeren. „Noch eine Woche, dann sind sie reif“, sagt Rota. 62 Jahre alt will er sein, aber das hohe Alter nimmt man ihm nicht ab. Ob es daran liegt, dass er als Künstler mit gesellschaftlichen Konventionen nie viel anfangen konnte?

Bevor sich Rota in der Negev niederließ, lebte er in einem winzigen Bungalow auf einem Hausdach hoch über Tel Aviv oder reiste durch Europa, immer auf der Suche nach Impulsen für seine Malerei und Land-Art-Installationen. So wie ihn die Neugier zur Kunst brachte, war sie der Grund, dass er sich dem Weinbau widmete, zunächst jede Menge Bücher las und schließlich, vor 13 Jahren, Geröll und Sand im Nirgendwo bepflanzte. Die erste Zeit ohne Wasser, Strom nur aus einem knatternden Generator. „Ich mag Herausforderungen“, betont der Winzer-Künstler.

Wer in der Negev etwas aufbauen will, darf keine Angst vor der Einöde haben. Darf kein Romantiker sein, aber auch kein Realist. So wie Rota in seiner Kunst. Vielleicht ist, was er in der Wüste sah, das, was man nicht auf den ersten Blick erkennt. Wenn er an der Staffelei in seinem Caravan steht und durch die offene Tür hinaus blickt, am liebsten abends, wenn das Licht weich wird, und tatsächlich eine frische Brise durch den Sand zischt, dann malt er sie, die Negev.

Das Volk der Nabatäer hatte die Negev zur Wirtschaftsregion gemacht

Es ist aber nicht nur die Stille, die Rota fasziniert. Es ist das Gefühl, an die Ge
schichte dieser uralten Landschaft anzuknüpfen. Lange bevor das Tourismusamt die „Weinroute“ in der Negev bewarb – und lange vor dem Unabhängigkeitskrieg, der die Wüste zu israelischem Staatsgebiet machte – hatte diese tatsächlich einmal geblüht. Das Nomadenvolk der Nabatäer, das im ersten Jahrtausend vor Christus von der arabischen Halbinsel einwanderte und zur politischen und wirtschaftlichen Macht der Region wurde, wusste den Sand zu lesen. Seine Handelskarawanen zogen mit Weihrauch und Myrrhe von Südarabien zum Mittelmeerhafen in Gaza. Diese „Weihrauchstraße“ war eine der ältesten und damals wichtigsten Handelsstraßen der Welt – in Rom wog man Weihrauch mit Gold auf.

Die Nabatäer hatten gelernt, den Winterregen zu ernten. Sie bauten Terrassen mit Steinwällen, da mit das Wasser in Kaskaden von den Hügeln die Wadis hinunterfließen musste, damit eine viel größere Oberfläche bedeckte und nicht sofort im ausgedörrten Grund versickerte. Das System war einfach und genial; es schützte den Boden vor Erosion. Bis zur arabischen Eroberung florierte die Negev und war dicht besiedelt.

Jahrhunderte später entwickelten israelische Kibbuzim hier die Methode der Tröpfchenbewässerung. Ein Glück, denn Israel geht heute der Platz aus. Das fruchtbare Galiläa und die grünen Täler von Jerusalem sind längst parzelliert. Die Kibbuzim schafften es außerdem, mit salzigem Brackwasser, das tief unter dem Wüstensand lagert, trotz des ariden Klimas Tomaten zu ziehen und Fische zu züchten. Mit Reben allerdings klappte das nicht. Für sie bezieht Rota wie die meisten Winzer sein Wasser aus der Entsalzungsanlage von Ashkelon an der Mittelmeerküste.

Nicht nur das Meer ist nah, auch der Konflikt mit den Palästinensern. Nach Tel Aviv schaffen es die Kassam-Raketen aus Gaza zwar noch nicht, aber hier unten im Süden bestimmen neben der Sonne Sirenen das Geschäft. „Es ist nicht wirklich gefährlich. Aber sobald es hier losgeht, steht alles still“, weiß Rota. Nicht die Art Ruhe, welche die Familien suchen, die hierher kommen. Vor allem im Winter. Wenn es in dem Matratzenlager am Ofen erst richtig gemütlich wird.

Erez Rota, Rota Winery, Negev, Israel
Außen pfui, innen hui. Wer aus dem Äußeren des „Kellers“ von Erez Rota, einem ausrangierten Container, Rückschlüsse auf das Innere ziehen will, liegt falsch: Dort herrschen moderne Kellertechnik und neue Barriquefässer.

Außer Touristen beherbergt Rota immer wieder auch Archäologen, für die der Wüstensand eine Schatztruhe ist: Antike Taubenverschläge, Ziegelöfen, Weinpressen. Was hier nicht schon alles gefunden wurde! Und dann sind da Besucher, auf die Rota gut verzichten könnte: Kamelherden, die es gewohnt sind, sich selbst zu versorgen. Selbst ein Drahtzaun hilft nicht, die Reben zu schützen. „Wenn ich Trauben habe, schlafe ich nicht“, sagt Rota. Und wenn der Winzer ein Kamel zwischen den Reben erwischt, bleibt ihm nur, es auf seinen Transporter zu verladen und ein paar Kilometer weiter auszusetzen.

Für die Beduinen war die Einrichtung einer „Genuss“route ein Schlag ins Gesicht

„Die Kamele gehören zur Kultur der Beduinen“, sagt Rota. „Aber manchmal kümmern diese sich nicht genug um sie.“ Er klingt vorsichtig, und das mit Grund. Für die Beduinen war die Etablierung einer „Genuss“route in der Negev nämlich ein Schlag ins Gesicht. Jahrelang hatte ihnen die Regierung erklärt, sie müssten ihre angestammten Siedlungen verlassen, sich in Townships sammeln, weil es zu schwierig sei, all die in der Wüste verteilten Dörfer mit Strom und Wasser zu versorgen. Und nun macht sie genau das mit jüdischen Kleinbauern, ja lockt diese geradezu auf das Land, das einst den Beduinen gehörte.

Israel, Weinfelder am Nationalpark Ein Avdat
Flagge zeigen, heißt es nicht nur an den Weinbergen am Nationalpark Ein Avdat nahe Sde Boker.

Rota schenkt einen winzigen Schluck Cabernet Sauvignon ein. Überraschend süffig ist der erste Schluck, ungewohnt fruchtig der zweite. Als ob aller auffindbare Lebensgeist unter der Sonne zu einer Essenz zusammengeschnurrt sei. Vielleicht ist es das, was die Erträge der Wüste auszeichnet. Wie auch beim Olivenöl, das nebenan im Kibbuz Revivim den Hainen abgepresst wird, oder beim Ziegenkäse, den man in allen erdenklichen Kombinationen und Reifegraden vorgesetzt bekommt, wenn man es wagt, sein Auto von der Route 40 Richtung Süden über die Auffahrt zur Kornmehl-Farm und ihrem Restaurant hinaufzuquälen.

Auf dem windverblasenen Plateau wartet selbst unter der Woche ein voller Besucherparkplatz. Wenn der Körper auf der Terrasse in die Kissen gesunken ist und das Röhren des Milchschäumers Kurt Cobains Stimme und die Ziegen übertönt, fühlt sich der schwüle Wind plötzlich an wie eine frische Brise im Yachthafen und das Glas kalter Ziegenmilch so belebend wie ein gewitzter Cocktail. Wer lange genug auf die gegenüberliegenden Hügel starrt, entdeckt Bewegungen im Sand, ein Tier huscht durch die Dornen. Es ist kein Donnerhall der Natur, eher ein Raunen, ein Wispern, das die Gesichtsmuskeln entspannen lässt. Ist es das, was Erez Rota meinte, wenn er von Kommunikation mit der Wüste sprach – diese Stimme, von der sich Neuankömmlinge wie er selbst oder die Kornmehls locken ließen?

Das Röhren des Milchschäumers übertönt die Stimmt Kurt Cobains

Zvi Remak dagegen lebte bereits im Kibbuz Sde Boker, als ihm vor 18 Jahren seine Gemeinschaft erlaubte, als erster in der Negev Wein anzubauen. Sde Boker liegt überraschend grün im Tal. Hier, in ihrem Herzen, wird die Wüste hügeliger und abwechslungsreicher – wohl auch das ein Grund, warum die Beduinen von der Regierung in den kargen Norden verbannt wurden.

Sde Boker ist eines der wenigen Kibbuzim, die noch nicht privatisiert sind. In denen die Bewohner noch immer kollektiv über ihr Schicksal entscheiden, in denen Eigentum wie Einkünfte Gemeingut sind. Remaks Probenraum liegt in einem Block, in dem sich einst die Sammelduschen befanden – ganz so ernst nimmt man es dann doch nicht mehr mit dem Kollektivzwang. Der Winzer verkauft hier nicht nur seine eigenen 2.000 Flaschen Wein im Jahr, sondern auch Weine aus Betrieben, die noch weiter ab vom Schuss liegen. Außerdem gibt es Espresso und Kuchen sowie Seife aus lokaler Herstellung. „Die Leute übertreiben es hier manchmal mit dem Pioniergeist“, mein Remak, „wollen alles alleine schaffen“. Der Bär mit dem kalifornischen Akzent wirkt erschöpft. Er kommt gerade von der Weinlese.

Sde Boker beherbergt auch das Wohnhaus David Ben Gurions, des ersten israelischen Premiers. Der hatte nicht nur Sprüche geklopft, als er in den 1950ern proklamierte, dass in der Negev Kreativität und Pioniergeist der jungen israelischen Gesellschaft erprobt werden sollen. Als Ben Gurion sich dann entschloss, in der Wüste einen Wald anlegen zu lassen, soll ihm beschieden worden sein, Wissenschaftler hielten das für unmöglich. „Dann holt andere Wissenschaftler“, war seine Antwort. Zwischen den Bäumen des Waldes wachsen heute auch die Trauben der renommierten Yatir-Kellerei.

Ben Gurion ließ sich nach dem Rückzug aus der Politik in Sde Boker nieder, in den puppenstubengroßen Kammern des Hauses wurde nach seinem Tod nichts verändert: Die Lederpantoffeln stehen noch immer vor dem handtuchschmalen Bett, die Regale ächzen unter den Büchern. Ben Gurions Haus soll heute als Museum daran erinnern, dass das Land ohne die Wüste und ihre Pioniere nur ein größeres Ghetto namens Tel Aviv wäre, wie es der Mann mit den zornigen Brauen und dem wirren, weißen Haarkranz einmal ausdrückte. Immerhin frönte er selbst dem zionistischen Traum bis ins hohe Alter beim Scheren der Schafe des Kibbuz.

Wadi Bor Havarim, Negev, Israel
Nach Regenfällen verwandelt sich auch das Wadi Bor Havarim zwischen Sede Boker und Avdat in einen reißenden Strom.

Zvi Remak wanderte 1980 nach Israel ein und hatte nur eine Vision: irgendetwas mit Landwirtschaft machen. In Sde Boker baute man damals zwar Obst an, konnte aber mit dem fruchtbaren Norden nicht konkurrieren. Im Kibbuz überlegte man deshalb, auf Tafeltrauben umzustellen. Als Remak davon hörte, war ihm klar, „Landwirtschaft im großen Stil ist hier nicht möglich. Das einzige, was sich rentiert, ist, ein Produkt von Anfang bis Ende selbst zu erzeugen.“

Die extremen Temperaturen sind gut für Trauben

Er ging zurück in die USA, um im Napa Valley Weinbau zu lernen. „Klappt eh nicht“, bekam er nach der Rückkehr nur zu hören, „haben wir schon versucht.“ Selbst heute noch, berichtet er, seien die Genossen eher vorsichtig, wenn es um Wein gehe. Dabei hat Remak die Produktion des letzten Jahres schon komplett verkauft. Er ist überzeugt, dass gerade die extremen Temperaturunterschiede gut für die Entwicklung der Trauben seien. Im Sommer bis zu 48 Grad, im Winter Frost. Das fördere die Säurebalance und die Vielschichtigkeit. Das trockene Klima wiederum verhindere den Befall der Reben mit dem gefürchteten falschen Mehltau.

Vom Klima abgesehen, hält Remak die Negev keineswegs für ein extremes Weinbaugebiet. „Extrem ist, was ihr in Deutschland betreibt“, meint er: „Weinberge an so steilen Hängen, dass man sich anseilen muss.“ Auch die Kamele stören ihn nicht. „Manchmal knabbert ein Stachelschwein die Wurzeln an, oder ein junges Wölfchen spielt mit den Bewässerungsschläuchen“, sagt Remak. Für den Winzer, der sich halbtags als Tour-Guide betätigt, zählen die Tiere zum Charme der Negev. Skorpione, Schlangen, Füchse oder Schakale könne man auf nächtlichen Safaris antreffen. „Viele Leute denken, in der Wüste sei alles braun.“ Wenn er selbst mit dem Mountainbike unterwegs sei, halte er oft an, um das Farbenspiel eines mageren Blümchens zu bewundern.

Im Nationalpark Ein Avdat nahe Sde Boker versteht man auch, warum die Beduinen behaupten, in der Negev seien schon mehr Menschen ertrunken als verdurstet. Meist rieselt nur ein Rinnsal über die Kalksteinklippen in der tiefen Schlucht. Aber während des Winterregens, wenn die Wadis kurzzeitig anschwellen, verwandelt sich Ein Avdat wie aus dem Nichts in einen gewaltigem Strom, dessen Sturzfluten alles mitreißen.

In der Negev sind schon mehr Menschen ertrunken als verdurstet

Jetzt im Sommer dagegen tut es gut, den Roadtrip mit einer kleinen Wanderung durch die kühle Schlucht zu unterbrechen: mit Blick auf den Wasserfall, auf Geier und Adler, die über senkrechten Felswänden und Höhlen kreisen, in denen einst byzantinische Mönche hausten.

Auch wenn Zvi Remak unkt, die Weinstraße sei mehr Straße als Wein, lohnt es, auf der Route 40 weiter Richtung Süden zu fahren. Kulinarisch wird es zwar nun für eine Weile karg, dafür wechselt die Landschaft von stracciatellafarbenem Sand mit braunen Bröckchen zu hummusgelber Erde mit koriandergrünen Büschen – und dann taucht schon wieder eine Fata Morgana am Straßenrand auf.

Auf einem Bergrücken trutzen die sandfarbenen Ruinen der Wüstenfeste Avdad. Als Karawanenstation der Nabatäer und später bedeutendste Stadt des sesshaft gewordenen Nomadenvolks gehören die Ruinen heute zum UNESCO-Weltkulturerbe. Schon vor dem Stadttor läuft man an einer antiken Weinpresse vorbei: Mit dem Zerfall des Römischen Reichs und der Christianisierung ging die Nachfrage nach Weihrauch deutlich zurück, und so verlegten sich die Nabatäer auf das Züchten von Araberpferden – und den Anbau von Wein. Die hier ansässige Carmey Avdat Winery nutzt heute noch teilweise die Terrassen der Nabatäer zur Bewässerung ihrer Reben.

Auf der Karte führt die Weinstraße noch weiter Richtung Süden. Die Beduinenromantik, die einige der Farmen an der Strecke zur Übernachtung versprechen, hat allerdings mit der Lebensrealität dieses Volks, wie sie ab und an neben der Straße aufblitzt, nichts zu tun: Die Herren der Wüste hausen zwischen Wellblech und Müllhaufen. Immerhin tut sich im Nabel der Negev Israels beeindruckendstes Naturspektakel auf. Der Krater von Mitzpe Ramon.

Geologen schimpfen, wenn man das Wort Krater benutzt, denn das gewaltige Loch in der Wüste wurde weder durch einen Meteoriten geschlagen noch entstand es durch vulkanische Aktivität, sondern tat sich durch einen seltenen Naturprozess auf. Das Meer, das einst die Negev bedeckte, brach hier den schweren Kalkstein, der wiederum über einer weicheren Sandsteinschicht gelegen hatte. So entstand eine an den Rändern steil abfallende, 40 Kilometer lange und bis zu 15 Kilometer breite Kuhle. Vom Kraterrand aus blickt man 500 Meter tief in eine Marslandschaft, gemalt aus buntem Sand.

So aufregend der Machtesch Ramon mit seinen irren Felsformationen, Ammonitenbordüren und nubischen Steinböcken mit ihren forsch geschwungenen Hörnern ist, so verschlafen gibt sich das Städtchen Mitzpe Ramon an seinem Rand. Als ob es sich nicht entscheiden könne, ob es lieber Forschungsstation, New-Age-Kommune, Alpaka-Zoo oder Trailerpark sein wolle.

Machtesch Ramon, Negev, Israel
Vom verschlafenen Mitzpe Ramon aus bietet sich ein spektakulärer Blick über den Machtesch Ramon mit seinen irren Felsformationen.

Die Weinberge, die vor der Stadt liegen, sind „Klimaflüchtlinge“ aus dem Westen der Negev. So zumindest erklärt es Jungwinzer Yogev Zadok von der Ramat Negev Winery, der größten in der Region. Seit ein paar Jahren, seit die Sommer immer heißer werden, kultiviert der Familienbetrieb zumindest die weißen Trauben im 900 Meter hoch gelegenen Mitzpe Ramon. Nur den Merlot ziehen sie noch daheim.

Der Weg zu Zadoks Weingut führt zurück über die Route 40 bis zur Kornmehl-Farm und von dort gen Westen über die 211 zur ägyptischen Grenze. Die Landschaft wird deutlich wüster. Eine Tatsache, die zumindest dem Ashalim-Projekt zugute kommt: Wie ein Spiegelwald stehen 55.000 Heliostaten, Sonnenspiegel, neben der Straße Spalier, bis 2018 sollen diese Spiegel zu Israels größter Energiequelle werden.

Ein Schild kündigt eine weitere antike Karawanenserei der Nabatäer an: Shivta. Noch mehr Ruinen und antike Weinpressen. Und dann endet Israel plötzlich vor einem Elektrozaun, dahinter die rosa Sanddünen des Sinai. Ein verwaistes Häuschen markiert die Grenzkontrolle. Seitdem der IS den Streifen Land dahinter unsicher macht, gibt es nicht viele Gründe, sich hier rumzutreiben. Es sei denn, man lebt wie die Zadoks im Moschav Kadesh Barnea direkt an der Grenze. Palmen und Treibhäuser mit Kirschtomaten garnieren die Hauptstraße. Der klebrige Geruch frisch gepresster Trauben weist den Weg. Auch die Fliegen lockt er an.

Mitzpe Ramon, Negev, Israel
Mitzpe Ramon hat Schwierigkeiten, sich zu entscheiden, ob es Forschungsstation, Militärstützpunkt, New-Age-Kommune, Alpaka-Zoo oder Trailerpark sein will.

Mitzpe Ramon, Negev, Israel

Yogev Zadok, dunkle Haut und gemütliche Pausbacken, steigt von seinem Traktor und erklärt, er finde die 33 Grad Spätsommerhitze erfrischend. Zadok ist hier aufgewachsen. Seine Eltern wurden aus dem Sinai evakuiert, als Israel die Halbinsel an Ägypten zurückgab. Mit ein paar anderen gründeten sie an der Grenze eine neue Siedlung. Schon im Sinai hatten sie Tafeltrauben angebaut, in Israel verlegten sie sich dann auf Kartoffeln und Zwiebeln. Zadoks Vater war bald davon gelangweilt, aber als ihm seine Frau zum Vierzigsten einen Kurs für Hobbywinzer in Tel Aviv schenkte, kam er vor Begeisterung sprühend zurück und begann, erste Reben zu setzen.

Wieso all die Umstände, wieso hier bleiben, im unwirtlichsten Eck Israels?

Zunächst verkaufte er seine Trauben an die Barkan-Kellerei, den zweitgrößten Weinerzeuger im Land. Dass er nebenbei auch Flaschen unter eigenem Label füllte, passte dem ungleich mächtigeren Konkurrenten allerdings nicht. Der alte Zadok holte seine Söhne ins Boot und wagte den Sprung zur Selbstvermarktung. Während Yogevs Bruder von Tür zu Tür zog, um Kunden zu finden, studierte dieser in Florenz Weinbau. Nach seiner Rückkehr investierten die Zadoks noch einmal massiv in Reben, und seither geht es Jahr für Jahr bergauf. Das, obwohl die Regierung die Winzer in Israel nicht unterstütze wie etwa in Europa, klagt Yogev: „Die kauft lieber neue Kriegsflugzeuge oder Panzer.“

Die Wasserversorgung sei kein Problem, nur ohne Dünger komme man nicht aus: Der Boden sei zu gehaltlos und das Wasser verliere durch die Entsalzung wertvolle Mineralien. Weil Zadoks wie die meisten israelischen Winzer koscheren Wein herstellen, kommen jeden Tag strenggläubige Kellerarbeiter aus der fünfzig Kilometer entfernten Wüstenmetropole Beer Sheva. „Im Moschav gibt es keine orthodoxen Juden“, erklärt Zadok. Für die Ernte, die wegen der Hitze nachts stattfindet, engagiert er Beduinen aus der Umgebung. Wieso all die Umstände, wieso hier bleiben, im unwirtlichsten Eck Israels? „Familie“, murmelt Zadok und zuckt mit den Schultern. So schlecht sei es ja nicht. Im Gegenteil.

Früher war die Gegend verrufen. Schmuggler und eriträische Flüchtlinge, die sich, wenn sie die Foltercamps der Beduinen im Sinai überlebt hatten, hier über die Straße schleppten, prägten das Bild. Aber mit dem neuen, hohen Zaun sei es ruhig. Dass der IS auf der anderen Seite sein Unwesen treibe? Problem der Ägypter! „Kein Terror und keine Raketen bis jetzt“, fasst Zadok seine Idylle zusammen. Das Moschav wächst sogar, immer mehr junge Familien zieht es raus in die Wüste: Ist das die neue israelische Landlust?

enos-Autorin Agnes FazekasDie gebürtige Münchenerin Agnes Fazekas lebt und arbeitet in Tel Aviv. Für enos berichtete sie bereits von der West Bank und aus Südafrika. Für die letzte Ausgabe schrieb sie das faszinierende, einfühlsame Portrait Shuki Yashuvs.


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Kopf und Schwefel

von Thomas A. Vilgis

Wieder mal jede Menge Schwefel in den Weinen, die Kopfschmerzen sind unerträglich. Der Schuldige für den Hangover scheint klar. Vielleicht ist es ja sogar der gesetzlich vorgeschriebene Hinweis „Enthält Sulfite“ auf den Etiketten, der die Gequälten auf solche Gedanken kommen lässt. Das Wissen um Schwefeldioxid, chemisch SO2, in ihrem Lieblingstrunk löst bei vielen Bedenken aus. Krankmachend könne sie sogar sein, diese Chemie im Wein. Dahinter steckt Aberglaube, wenig wirkliches Wissen.

Es reicht ein Blick auf die chemische Formel des beschuldigten Missetäters, um seine Haupteigenschaft zu verstehen: SO2. Ein Schwefelatom bindet zwei Sauerstoffatome. Und zwar schnell. So schnell, dass der Sauerstoff keine Zeit hat, Schaden im Wein anzurichten. Ihn zu oxidieren.

Das geruchs- und geschmacksfreie „Sulfit“ begleitet den Wein auf vielen Etappen seines Lebens. Beim Maischen wirkt es als Antioxidans und gibt unerwünschten Bakterien oder wilden Hefen keine Chance, ihr Unheil anzurichten. Auch sensorisch leistet der Schwefel viel. Bei jeder Gärung entsteht nämlich Acetaldehyd, das durch seinen stechenden, modrigen Geruch erkennbar ist: Schwefel aber neutralisiert dieses Acetaldehyd zu einer sensorisch unauffälligen Verbindung. Wird Wein ohne die viel gescholtenen Sulfite gefüllt, ist er kaum haltbar, geschweige denn für längere Lagerung geeignet. Wilde Hefen und Essigbakterien beginnen ungehindert ihre fatale Arbeit, und der Flascheninhalt taugt anschließend vielleicht gerade noch für eine mäßige Vinaigrette.

Schwefeldioxid kann, glaubt man neueren Erkenntnissen, sogar noch mehr. Es sorgt für deutlich verbesserte Farbstabilität des Weins und dafür, dass sich das Acetaldehyd im Wein mit Phenolen wie Catechin oder mit den Farbstoffen der roten Trauben, den Anthocyanen, zu größeren, stabileren Pyranoanthocyaninen verbindet. Dies sind Stoffe, die sich ansonsten nur bei längerer Lagerung bilden. Solcherart gebundene Phenole verlieren aber sowohl die geschmackliche Bitterkeit wie auch die Adstringenz.

Durch die Verwendung von SO2 schlägt man also geschmacklich gleich deutlich mehr Fliegen als bisher gedacht mit einer Klappe. Soll die Menge an zugesetzten Sulfiten gering gehalten werden, kann der Weinmacher die verschiedensten „Tricks“ anwenden. Dazu gehören strengste Auslese des Traubenguts, denn schon die kleinste „faulige“ Stelle zeugt von starker Enzymaktivität und kann Fehlaromen verursachen. Schnelles Arbeiten verhindert den Kontakt des Mostes mit wilden Hefen und Lactobakterien, wobei auch hoher Phenol- und Tanningehalt des Weins hilft. Diese Moleküle aus den Schalen und Kernen sind nämlich so etwas wie traubeneigene Antioxidationsmittel, und sie schützen schon im Weinberg die Beeren vor der harten Ultraviolettstrahlung und vor Fressfeinden.

Was die meisten, die dem schwefelnden Weinmacher die Schuld an ihrem Kopfweh geben, nicht wissen, ist die Tatsache, dass viele Hefen ohnehin Schwefel produzieren, um sich dadurch selbst zu schützen. Denn zu ihrer Arbeit benötigen sie Nahrung: Zucker, Mineralien und Aminosäuren als Stickstoffquelle. Unter diesen Aminosäuren sind auch Cystein und Methionin. Während Methonin zu schweflig riechenden Aromaverbindungen – etwa dem kohlartig riechenden Dimethylsulfid – oder dem an gekochte Kartoffeln erinnernden Methonal umgebaut wird, kann der Schwefel des Cysteins sich abspalten und neue Verbindungen, darunter auch SO2 bilden.

So ganz nebenbei: Methionin und Cystein gehören zu den essentiellen Aminosäuren, ohne die wir überhaupt nicht leben könnten. Und die körpereigenen Mikroorganismen im Darm, die den Hefen nicht unähnlich sind, produzieren mehr Schwefel, als je in eine Flasche Wein gefüllt wurde. Schwefelverbindungen sind deshalb im wahrsten Sinne des Wortes „bio“.

Was die Ursachen des Brummschädels angeht, so dürften sie wohl in den meisten Fällen entweder dem „einer-geht-noch“-Glas am Ende des Abends oder aber toxischen Gärprodukten wie etwa dem Histamin geschuldet sein, das in vielen Lebensmitteln und Getränken in einer Menge vorzufinden ist, die bei sensibleren Naturen allergieähnliche Reaktionen auslösen. Und damit eben auch Kopfweh.


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Alles ein Brei?

von Eckhard Supp

Haben Sie sich auch schon mal darüber beschwert, dass sich die Weine in den letzten Jahrzehnten geschmacklich immer ähnlicher geworden sind? Dass die moderne Önologie mit ihren Methoden und Methödchen, das Barriquefass allen voran, sämtliche Unterschiede zwischen den Rebsorten, Herkünften und Handschriften glattgebügelt hat? Dass die Weine immer „industrieller“ wurden? Dass das Geschmacksideal vieler Weinmacher immer stromlinienförmiger wird, immer mehr zum organoleptischen Einheitsbrei neigt?

So oft man diese oder ähnliche Vorwürfe hören kann, so fragwürdig sind sie. Sie haben in etwa die Aussagequalität des kulturpessimistischen „Früher war alles besser“, das meist von Menschen in die Debatte geworfen wird, die entweder das „früher“ gar nicht selbst erlebt haben, oder solchen, denen im Alter nichts Besseres einfällt, als ihrer eigenen Jugend nachzutrauern.

Klar: Die moderne Önologie und der moderne Weinbau haben die Weine in den letzten Jahrzehnten entscheidend verändert. Zum Guten! Ich erinnere mich noch sehr gut an die 1980er und beginnenden 1990er Jahre, als ich für den italienischen Weinführer „Gambero Rosso“ Weine bewertete. Wer seinerzeit beruflich zehn Weine verkostete, konnte froh sein, wenn vier oder fünf von ihnen nicht zum Himmel stanken, zwei davon vielleicht sogar wirklich gut waren. Heute wäre es bei hundert verkosteten Weinen schwierig, überhaupt noch mehr als einen oder zwei dieser „Stinker“ aufzuspüren.

Und klar auch: Es gab Tendenzen der „Globalisierung“ im Weinbau wie etwa die rapide Verbreitung bestimmter Rebsorten. Chardonnay zum Beispiel – die aus dem Burgund stammende Sorte wurde noch in den 1950er Jahren auf nicht mehr als 8.000 Hektar Rebfläche in Frankreich kultiviert. Heute sind es fast 50.000 Hektar in Frankreich, geschätzt 150 bis 200.000 Hektar weltweit – von Australien bis Kalifornien, Südafrika bis Chile, Italien bis Deutschland praktisch kein Land mehr ohne den kräftigen Burgunder. Oder Cabernet Sauvignon. Der wird weltweit inzwischen sogar auf 250.000 Hektar kultiviert. Und all die anderen, die heute weltweit geschätzt sind: Syrah und Grenache, Riesling und Sauvignon blanc, Merlot, Pinot noir und Tempranillo. Aber sollen wir bzw. die Menschen in Ländern mit „neuer“ Weinkultur auf die Weine aus diesen Sorten denn einfach verzichten. Trinken wir lieber wie früher mickrige Weine aus Trebbiano, Airén oder Cataratto?

Was die so genannten Mittelchen betrifft – das Barriquefass etwa, das angeblich alle Weine geschmacklich bis zur Unkenntlichkeit glattbügelt: Waren denn die großen Rotweine aus Bordelais und Burgund – praktisch allesamt im Barriquefass oder Pièce ausgebaut – in der Vergangenheit alle ein Brei? Geschmacklich nicht voneinander zu unterscheiden? Doch wohl kaum!

Könnte es nicht vielmehr sein, dass wir es schlicht verlernt haben, darauf zu warten, dass sich die Individualität der Weine hinter den Spuren des Holzeinsatzes mit den Jahren entfaltet? Dass wir vielleicht sogar verlernt haben, diese Individualität, diese Unterschiede überhaupt wahrzunehmen, zu erschmecken?

Und selbst wenn das Verdikt einer gewissen Uniformität auf die große Masse der meist zu Schleuderpreisen in der Fläche angebotenen Weinmarken, die in großen „Weinfabriken“ industriell erzeugten Weine zuträfe: Wäre das Glas dann halb voll – das heißt, die Weine immerhin deutlich trinkbarer als früher – oder wäre es halb leer – die Weine also zu Recht als Einheitsbrei zu kritisieren?

Von wegen, alles ein Brei? Ich glaube, sogar das Gegenteil ist der Fall. Es gibt weniger Winzer als früher, die schlechte Weine machen, und deutlich mehr, die versuchen, ihren Weinen Individualität und Charakter mit auf den Weg zu geben. Es gibt Dutzende, wenn nicht Hunderte verschiedener Herangehensweisen an Gärung und Ausbau. Es gibt die Renaissance vieler einheimischer, oft vergessen geglaubter Rebsorten. Mein Fazit: Pauschalurteile haben eben doch immer etwas Billiges. Das gilt auch gegenüber Weinen und ihren Erzeugern.


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Cannonau - ein Sortenkrimi mit Folgen

von Eckhard Supp

Wildreen auf Sardinien, Italien

In der Fachliteratur ist die Sache klar: Garnacha ist eine ursprünglich spanische, genauer eine aragonesische Rebsorte, die von Nordspanien aus als Cannonau auf die italienische Insel Sardinien, später dann als Grenache nach Südfrankreich gelangte, von wo aus sie sich wiederum über die ganze Weinwelt verbreitete. Das sagt das große Rebsortenlexikon „Wine Grapes“ von Robinson, Harding und Vouillamoz, das sagt der „Brockhaus Wein“, das sagt der „Oxford Companion to Wine“, während das „Dictionnaire Encyclopédique des Cépages“ von Galet die Sorte zwar als eine der „großen französischen“ listet, sich aber bei der Frage der Herkunft vornehm zurückhält. Es ist Schulwissen – tausendfach zitiert, tausendfach gelehrt. Und doch könnte es sich dabei um waschechte „fake news“ handeln, um einen wissenschaftlichen Irrglauben. Der das behauptet, und zwar bereits seit mehr als zehn Jahren, ist Gianni Lovicu, Agronom der sardischen Agentur für landwirtschaftliche Forschung. enos hatte jetzt Gelegenheit zu einem langen Gedankenaustausch mit überraschendem Ergebnis.

Gianni Lovicu, Sardinien
Gianni Lovicu ist ein Agronom in Diensten der sardischen Agentur für landwirtschaftliche Forschung.

Gianni Lovicu zuzuhören, kann spannend sein. Spannender als ein Thriller im Kino. Dabei geht es „nur“ um Rebenkunde, um Ampelographie. Eine dröge Materie, im Extremfall zum Gähnen langweilig? Mitnichten! Lovicu beschäftigt sich mit der Herkunft einer Rebsorte, die nach bescheidenem Anfang heute zu den meistkultivierten der Welt gehört und die alleine oder im Verschnitt mit anderen von Spanien bis Australien, von Südfrankreich bis in die USA, von Italien bis nach Südafrika mehr oder weniger farbintensive, geschmacklich volle, dichte und würzige Weine hervorbringt. Aber das ist nicht alles: Lovicu glaubt auch, dass wir in vielen, scheinbar universell akzeptierten Annahmen über unsere Ursprünge irren.

„Ja, der Cannonau. Er ist eine sardische Rebsorte. Seine ältesten Spuren sind in Sardinien zu finden, aber wo er ursprünglich herstammt, muss noch untersucht werden. Nach Spanien kam er erst zwei Jahrhunderte später, nach Frankreich noch später“, erst im 18. Jahrhunderts, was man auch im erwähnten Rebsortenlexikon nachlesen kann. Wo Robinson und Kollegen übrigens auch feststellen, dass die drei Sorten in Wahrheit eine sind. „Das konnte man durch eine Analyse mithilfe von DNA-Mikrosatellitenmarkern zweifelsfrei zeigen,“ bestätigt Lovicu.

Immer in Eile! Lovicu rattert seine Thesen herunter wie ein Maschinengewehr. Ihm im Detail zu folgen, verlangt Konzentration. Ein sachliches Maschinengewehr allerdings ist er, Polemik oder Spott über Kollegen, Vertreter anderer Meinungen liegen ihm fern. Und auch wenn seine Thesen sehr selbstbewusst klingen, manchmal fast zu apodiktisch: Lovicu ist kein Missionar. Er will überzeugen, nicht überwältigen. Ist Wissenschaftler, weiß, dass es wichtiger ist, immer neue Fragen zu stellen, als endgültige Antworten vorzutäuschen. „Ich glaube, ich bin überzeugt, ich meine, irgendwie, vielleicht, könnte, dürfte …“, setzt er meist vorsichtig an, so als traue er der Kraft seiner Argumente letztlich doch nicht ganz. Die allerdings haben es in sich. Dabei fing alles mit Zweifeln an, nicht etwa mit Entdeckungen oder Gewissheit. So, wie es sich eben für einen Wissenschaftler gehört, dem Zweifel immer näher sein sollten als Beweise.

Lovicus Argumente waren und sind zuallererst historischer Natur. „Sardinien war für die Spanier so etwas wie ihr Vietnam“, weiß er von einem befreundeten Historiker. „Cagliari war keine Stadt, sondern eine Festung. Wurde ein Nicht-Spanier innerhalb der Mauern entdeckt, erschoss man ihn. Dito den Sarden, der eine Spanierin heiratete, oder den Spanier, der mit der Sardin erwischt wurde. Als die spanischen Schiffe vor der Schlacht von Lepanto hier Vorräte bunkerten, bunkerten sie weder Lebensmittel noch Wein. Und eine solche Besatzungsmacht soll hier spanische Reben ausgepflanzt haben?“

Ohne Atemholen geht es weiter. „Die Konquista Südamerikas, nur einige Jahrzehnte nach der Schlacht von Sanluri, in der die Spanier das ihnen zugefallene Sardinien auch militärisch unter ihre Kontrolle brachten … Warum nahmen sie da nicht auch ihre Garnacha mit? Tatsache ist doch, dass es nicht die geringste Verwandtschaft zwischen den nach Südamerika exportierten Sorten wie den Moscato-Reben oder dem Torontès einerseits und der Garnacha andererseits gibt. Genauso, wie es keine Verwandtschaft mit all den anderen Sorten gibt, die die Spanier angeblich nach Sardinien brachten, der Monica, des Carignano, des Bovale. Nichts!“

Wie beim Spinat: Ein Schreibfehler bringt Wissenschaftler auf die falsche Fährte

Wissenschaftliche Beweisführungen früherer Zeiten? Von den meisten hält Lovicu nicht viel. „Eine der Theorien, die der italienische Ampelograph Giuseppe di Rovasenda 1850 aufstellte, lautete, die Sorte stamme aus Andalusien und sei dort als Canocazzo bekannt gewesen. Nur war diese These von derselben wissenschaftlichen Qualität wie die legendäre Behauptung eines hohen Eisengehalts im Spinat. Ein Schreibfehler! Die Sorte, die Rovasenda meinte, hieß in Wahrheit Cañocaso und war weiß. Eine Sorte, die keinerlei genetische Verwandtschaft zur Garnacha besitzt, aber das hat bisher niemanden interessiert.“ In sardischen Quellen wird Cannonau, wie man heute weiß, erstmals um 1550 herum erwähnt. Erklärt Lovicu. Von da an taucht er in allen Dokumenten auf, die sich mit dem Weinbau der Insel befassen. 1580, 1610 … In Spanien dagegen spricht erstmals Cervantes in seiner moralischen Novelle „Lizenziat Vidriera“ 1613 von einer Garnacha. „Aber er erzählt da von einem Besuch seines Helden in einer Genueser Bar, deren Garnacha schon wieder ein Weißwein war“, ein Seufzer, „und um wirklich die ersten Erwähnungen der roten Garnacha zu finden, muss man ein spanisches Lexikon von 1730 zu Hilfe nehmen. Fast zwei Jahrhunderte nach der sardischen Erwähnung des Cannonau.“ Immerhin erkennt Lovicu an, dass Robinson und Kollegen die Sorte schon zu einem früheren Zeitpunkt in Spanien aufgespürt haben wollen. Unter ihrem damaligen Synonym Aragones bereits seit 1513, als Garnacha aber erst im 17. Jahrhundert, das heißt lange nach den ersten Erwähnungen des sardischen Cannonau. Nur: Waren die beiden Bezeichnungen schon damals Synonyme für dieselbe Sorte?

Garnacha-Reben, Navarra, Spanien
In Spanien, wie hier in der Provinz Navarra, ist der Cannonau unter dem Namen Garnacha bekannt.

Vielleicht gelangte Garnacha alias Cannonau ja erst nach erfolgter Rekonquista, nach der Rückeroberung der lange unter islamischer Herrschaft stehenden Teile der iberischen Halbinsel durch christliche Herrscher dorthin. Überliefert ist jedenfalls, erklärt Lovicu, dass Klöster und Klerus Gesandte in viele Teile Europas schickten, um die besten Reben für die neu zu bestockenden spanischen Weinberge zu sammeln. Warum nicht auch nach Sardinien, das immerhin bis ins frühe 18. Jahrhundert der spanischen Krone gehörte?

Wahrscheinlich, und da würde Lovicu im Moment wahrscheinlich nicht einmal widersprechen, haben Robinson und Kollegen recht, wenn sie schreiben, dass es „auf der Basis der historischen Daten unmöglich ist, den Ursprung der Garnacha alias Cannonau definitiv zu bestimmen.“ Aber es gibt noch eine andere Ebene, die der biochemischen Analyse. Zwar heißt es bei Robinson, dass durch sie die Möglichkeit einer direkten Domestizierung des Cannonau aus Wildreben ausgeschlossen werden konnte. Lovicu bestätigt das, ist aber genauer. Tatsache scheint, dass zwischen dem Cannonau und den in Sardinien gefundenen Wildreben keine Verwandtschaft besteht. Aber das kann auch heißen, dass solche Wildreben in der Gegend entweder verschwunden sind, oder dass der Cannonau vielleicht doch importiert wurde – das aber nicht aus Spanien, weil auch dort noch keine Wildrebenverwandtschaft bekannt ist. „Und wenn er nach Sardinien importiert wurde, dann wiederum auf jeden Fall wesentlich früher, als sein Vorkommen in Spanien dokumentiert ist“, betont Lovicu zum wiederholten Mal.

Südafrika, Franschhoek, Weinberge
Auch in Südafrika, hier Weinberge in der Nähe von Franschhoek, werden unter der französischen Bezeichnung Grenache hervorragende Weine erzeugt.

Bedeutender noch sind zwei weitere Elemente des Puzzles, das Lovicu, inzwischen mit kleineren Pausen im Redefluss, ausbreitet. Das erste ist die Tatsache, dass die Pflanzenzellen des Cannonau biogenetisch zum Chloroplastentyp A – Chloroplasten sind Teile der Pflanzenzellen, die Chlorophyll enthalten – der vier in Weinreben präsenten Typen gehören. Es sind die der Wildreben des westlichen Mittelmeers. Während die Mehrzahl der aus dem östlichen Mittelmeer stammenden Kultursorten zu den Typen C und D zählen. Das legt eine Abstammung von Wildreben der Region und nicht von Kulturreben nahe. Lovicu scheint zu wissen, dass er damit ein Fass aufgemacht hat. Und schiebt sofort ein zweites Resultat der biochemischen Forschung nach. Auch wenn beim Cannonau kein direkter Zusammenhang mit den Wildreben „vor Ort“ gefunden wurde, so gilt das nicht für andere sardische Rebsorten. Die damit eindeutig von Sardinien nach Spanien wanderten, nicht umgekehrt. „Bei denen ist die enge Verwandtschaft mit sardischen Wildreben nachgewiesen. So ist der sardische Muristellù zur spanischen Parraleta, der Bovale mannu oder Cagnulari zum spanischen Graciano geworden.“

Rumms! Das hat gesessen. Mit zwei knappen Halbsätzen hat Lovicu ein ganzes Gedankengebäude eingerissen, dass nicht nur die Rebforschung lange geprägt hat und noch prägt. Auch in anderen Wissenschaften wie der Anthropologie hängen viele der Theorie von der „einen Eva“ an, der einen Begründerin oder zumindest dem einen, einzigen Ursprungsort der Arten. In der Rebforschung haben das McGovern und Vouillamoz noch vor wenigen Jahren auf den Punkt gebracht, als sie den Ursprung unserer heutigen Kulturreben in Anatolien verorteten (s. dazu den Artikel von Patrick McGovern in Ausgabe 1/2016 von enos).

Ist es sinnvoll, den Ursprung unserer Kulturrebsorten an einem einzigen Ort zu suchen?

Lovicu ist die Problematik bewusst. Er zieht dem Glauben an einen einzigen Ursprungsort der Kultursorten einen polyzentristischen Ansatz vor. „Moglie e buoi dei paesi tuoi“, kommentiert er mit einem italienischen Sprichwort. Bleibe im Lande und nähre dich redlich! Für ihn haben sich die Versuche einer Domestizierung der Wild- zur Kulturrebe unabhängig voneinander an verschiedenen Orten vollzogen. Ist es denn glaubhaft, dass nur an einem Ort die Menschen so schlau gewesen sein sollen? „Wir wissen beispielsweise, dass viele Tiere gerne fermentierte Früchte essen. Des Rauschs wegen, das haben viele Forscher gezeigt. Wenn Tiere das machen, dann macht der Mensch das doch wohl erst recht! Und hat dabei mit Sicherheit auch entdeckt, unter welchen Bedingungen die Wildrebe gute und viele Früchte trägt. Dass sich diese Kletterpflanze beispielsweise perfekt für den Pflanzenschnitt eignet. Ich erinnere daran, dass man hier in Sardinien noch bis vor 50 Jahren Wein aus wilden Rebsorten machte.“

Italien, Sardinien, Wildreben
An vielen Ecken der Insel Sardinien findet man noch Wildreben, die sich hoch an den Bäumen emporranken.

Das „ich weiß nicht“, „ich bin mir nicht sicher“ wird häufiger. Zu vieles an der Herkunft der Rebe ist noch ungesichert. Woher dann die so überzeugt klingenden monozentristischen Theorien seiner Kollegen? Vielleicht, sinniert Lovicu, sind sie ja gar nicht wissenschaftlich zu erklären, sondern einem eher philosophisch, vielleicht gar einem religiös begründeten Bedürfnis des Menschen geschuldet, die Existenz der Arten auf „die eine“ Ursache, „den einen“ Schöpfer zurückzuführen?

Faszinierend! „Aber natürlich kann ich nicht ausschließen,“ beschwichtigt Lovicu, „dass wir morgen Dokumente finden, die vielleicht doch noch eine spanische Herkunft der Garnacha beweisen.“ Obwohl die Indizien zahlreicher werden, dass die Migration in umgekehrter Richtung stattfand. Wie die der Rebe und des Weins insgesamt. So hat man in jüngerer Zeit im östlichen Mittelmeer antike Amphoren gefunden, die eindeutig aus Sardinien stammten, die also nicht von Ost nach West, sondern von West nach Ost gereist waren. In das Bild passt die jüngste Entdeckung von Amphoren aus dem vierten Jahrtausend vor Christus in Italien, die eindeutig Weinreste enthielten – Funde aus einer Zeit also, die lange vor der bisher angenommenen Migration der Weinrebe aus dem Nahen Osten ins mittlere und westliche Mittelmeer lag.

Fragen über Fragen. Zu vieles liegt noch im Dunkel, wie selbst der Name Cannonau, zu dem es verschiedene Hypothesen gibt. Stammt er daher, dass zum Aufbrechen des Tresterhuts bei der Gärung eine lange Stange, italienisch „canna“, benutzt wurde? Oder bezieht er sich darauf, dass der Tresterhut so bewegt wurde, dass er aussah, wie eine „cannonadura“, wie die Plisseefalten, die sardische Frauen in ihre Stoffe webten? Nicht eine dieser Theorien überzeugt Lovicu. Und was die Spanier dazu brachte, der Sorte den Namen Garnacha zu geben, der eindeutig zum Wortstamm der uralten Weißweinsorte Vernaccia, Vernazza etc. gehört, der seinerseits auf das lateinische „vernaculus“, deutsch: inländisch, einheimisch, zurückgeht? Lovicu zuckt die Schultern.

Die Zeit drängt, ein Vortrag muss gehalten werden. Zum Glück darf das auf Sardinien auch mal eine Stunde später als geplant stattfinden. Lovicu wird seine Thesen auch dort vortragen. Und versuchen, nicht nur Licht ins Dunkel der Herkunft einer der bedeutenden Rebsorten der Welt zu bringen, sondern en passant auch einigen der großen Menschheitsfragen ein Stück weit näherzukommen.


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Was macht eigentlich Monsieur Jacques?

von Uli Kreikebaum

Jacques Héon, Düsseldorf, Gründer der Jacques' Weindepots

Monsieur Jacques kennen Sie. Klar! Oder etwa doch nicht? Aber sein Weindepot, das müssten Sie kennen. Das, von dem es in Deutschland mittlerweile 300 Ableger gibt. Jacques‘ Weindepot. Nur, gibt oder gab es diesen Monsieur Jacques über haupt? Oder war der Name nur ein Einfall des Marketings? Es gibt s ihn, und ob wohl in „seinem“ Depot längst nicht mehr Hausherr, ist Jacques Héon, der echte Monsieur Jacques, wie eh und je aktiv. Auch in der Weinbranche. Uli Kreikebaum besuchte den Mann, der den Deutschen zu besserem Weingeschmack verhalf.

Seinen französischen Akzent hat er behalten. „Aber eigentlich“, wirft Jacques Héon ein, „bin ich ja Türke.“ Wie die meisten Gastarbeiter der Zeit habe er nämlich vorgehabt, irgendwann zurückzugehen in die Heimat, als er 1966 nach Düsseldorf kam. Der Liebe wegen und für einen Arbeitgeber, der seine Käsespezialitäten, Artischocken und Weine auch in Deutschland verkaufen wollte. Er schickte dazu seinen schrägsten Vogel, Héon eben, der schon damals buchstabieren konnte, was sonst noch kaum einer kannte: Marketing. Deutsch zu sprechen war nicht so wichtig, kein Wort habe er gekonnt. Und auch das dem Käse und den Weinen lief eher so lala. Doch dann begann die Sache mit dem Weindepot. Eine Sache, für die er bis heute mit seinem Namen steht, auch wenn er mit dem Depot schon lange nichts mehr zu tun hat.

Monsieur Jacques (re) und Doktor Müller (li), die Gründer der Weinhandlungen, die noch heute den Namen des Ersteren tragen.
Monsieur Jacques (re) und Doktor Müller (li), die Gründer der Weinhandlungen, die noch heute den Namen des Ersteren tragen. (Foto: Christoph Münstermann)

Jacques Héon sitzt in seiner Wohnung im schicken Düsseldorfer Stadtteil Oberkassel. Der Rhein ist nicht weit, ein Weindepot, das seinen Namen trägt, gleich um die Ecke. Héon ist – gemeinsam mit seinem Freund Olaf Müller-Soppart – der Erfinder von Jacques‘ Weindepot. Die zwei können für sich beanspruchen, den Deutschen, die vorher nur süßen Fusel kannten, nach 1974 zu Weingeschmack verholfen zu haben. Die nach Jacques‘-Vorbild längst mit preiswerten, relativ guten Weinen gefüllten Sortimente der Discounter haben das Geschäft zwar seitdem erschwert, aber, sagt Héon, „probieren kann man nach wie vor nur bei Jacques‘, und auch eine Beratung gibt es ja bei Aldi nicht.“ Geschweige denn eine seriöse Qualitätskontrolle, aber das sei ein anderes, viel größeres Thema.

"Da kommen alle Penner der Stadt und trinken den Laden leer."

Die Geschichte von Jacques Héon in Deutschland beginnt mit einer hübschen jungen Frau aus Köln, die Héon liebte, und mit einer Handelsgesellschaft, für die er arbeitete. Betreut wurde die Handelsgesellschaft von einer Werbeagentur und einem Mitarbeiter namens Dr. Müller-Soppart. Nebenher verkauften Monsieur Jacques und Doktor Müller im Bekanntenkreis noch trockene Weine aus dem Elsass – obwohl beide damals keine Ahnung von Wein hatten. „Ich komme aus der Normandie, ich kannte nur Cidre und Calvados“, erklärt Héon.

Nach zwei Jahren in den Diensten der Handelsgesellschaft fragt Héon Müller-Soppart, ob er sich nicht mit ihm zusammen selbstständig machen wolle. Soppart will, ohne groß nachzudenken. Die Idee für das Weindepot, sagt Monsieur Jacques, sei dann nach ein paar erfolgreichen gemeinsamen Jahren mit der Marketingagentur nicht wirklich Zufall gewesen: „Wir hatten einige Kampagnen gemacht und wussten, dass die Deutschen ein Drittel ihres Weins im Versand kaufen, beim Winzer oder über Großhändler. Dass sie aber auch am Wochenende an die Ahr und an die Mosel fahren und dort Wein kaufen. Und wir wussten, dass die Deutschen nur süße Weine kannten und sehr teure; dass sie gar nicht ahnten, welche Weine für wenig Geld es gibt. Es gab also einen Markt für unsere Idee.“

Jacques Héon im ältesten Jacques' Weindepot, Düsseldorf
Noch immer ist Jacques Héon gerne in „seinen“ Depots. Im ältesten am Stadtrand von Düsseldorf besonders gerne.

Die basierte darauf, eher einfache, trockene Weine aus Frankreich direkt vom Winzer zu importieren – so sparten die Unternehmer die Margen der Großhändler –, und die Kunden in kleinen Läden zu beraten und probieren zu lassen. „Am Anfang haben viele gesagt: Jacques, du bist verrückt, da kommen sämtliche Penner der Stadt und trinken dir den Laden leer! Aber es hat geklappt. Die Depots lagen ja auch meistens in der Peripherie.“ Da, wo man ein Auto brauchte. Der Anfang – nicht leicht. Die Zielgruppe der beiden waren zunächst die vielleicht 20.000 Frankophilen der Stadt; in Düsseldorf seinerzeit vorzugsweise am Citroën zu erkennen. „Wir haben also erst mal französischen Autos unsere Flyer an die Windschutzscheibe geklemmt.“ Der erste Laden in einer Düsseldorfer Garage, an einer Ausfallstraße, lief blendend. Erst als Héon und Müller auch Läden in Köln, Bonn, Essen und Wuppertal aufmachten, wie wild zwischen den Städten pendelten, Studenten beschäftigten und expandieren wollten, wurde es schwierig.

Wir haben erst mal Flyer an Windschutzscheiben geklebt

Die Winzer wollten binnen 90 Tagen ihr Geld sehen, und so galt es, in jeweils drei Monaten genug Wein zu verkaufen, um Wein, Mieten und Mitarbeiter bezahlen zu können. Irgendwie gelang das dann doch, und nach gut fünf Jahren war sogar der Break Even geschafft. Um weiter wachsen zu können, baten sie ihre Bank um 200.000 Mark – immerhin machten die Depots jedes Jahr 40 Prozent mehr Umsatz. Die Antwort: Keine Sicherheiten, kein Geld! „Es war eine Schande, dass die Bank uns kein Geld geben wollte. Wir haben dann irgendwann entschieden, zu verkaufen“, erinnert sich Héon und sieht dabei gar nicht glücklich aus.

Als British American Tobacco 1980 Interesse zeigte, wollten die Gründer ein Viertel ihrer Anteile behalten. „Ihr wollt zweimal reich werden? Das geht nicht“! antworteten ihnen die BAT-Manager. „Tja, und 2,4 Millionen waren ja auch nicht schlecht. Im Nachhinein betrachtet, natürlich viel zu wenig, aber damals war das viel Geld. Wir mussten BAT auch den Namen Jacques‘ Weindepot überlassen und hatten keine Rechte mehr.“ Nur als Berater blieben die beiden noch zwei Jahre an Bord; Jacques‘ verkauft heute in 300 Geschäften rund 20 Millionen Flaschen Wein im Jahr. Berater blieb Monsieur Jacques auch danach. Zunächst für Windkraftanlagen, vornehmlich aber weiter für Wein. „Ich hatte den Vorteil, dass man meinen Namen kannte. So blieb ich ein bißchen gefragt“. Ruhig ist es jedenfalls nie um ihn geworden. Das wäre wohl nur der Fall gewesen, hätte die Sache mit dem Weingut geklappt. 14 Jahre lang, von 1980 bis 1994, hatte er ein eigenes. „Domaines Paradis“ hieß es und lag anmutig auf einer Anhöhe bei Aix-en-Provence. „Der schönsten Stadt Frankreichs.“

Als Winzer tat er, was er immer getan hatte – auf sein Bauchgefühl vertrauen. „Ich war eigentlich immer leichtgläubig und ein Optimist“, sagt er, „ich habe Weißen und Roten gemacht, Land dazu gekauft und war voller Enthusiasmus. Leider konnte ich keinen guten Wein machen. Ich habe nicht in einen Weinkeller investiert und viele andere Fehler gemacht. Ich habe es nicht geschafft, guten Wein zu keltern.“

Jacques' Weindepot Nr 1, Düsseldorf, Deutschland
Das Sortiment der Jacques‘ Weindepots umfasst heute weit mehr als nur französische Weine.

Gescheitert, wenn man so will, ist er auch mit der Idee, den Bag-in-Box, den Schlauch mit Zapfhahn im Karton, wirklich populär zu machen. „Ich versteh‘ es bis heute nicht, dass der sich nicht auf breiter Front durchsetzen konnte. Im Schlauch ist der Wein doch luftdicht verschlossen, hält sich sechs Monate und ist auch noch rund ein Drittel billiger als in der Flasche. Für Restaurants wäre das genial.“

Ideen hat Héon auch heute noch, mit 80, trinkt auch gerne ein, zwei, drei Gläser am Tag – eines davon mittags. Er möchte gerne einen Neunprozent-Wein am Markt etablieren, irgendwann dann auch einen alkoholfreien. „Oh lala, schwierig, aber er wird sich durchsetzen, der Neunprozenter, glaube ich. Im Sommer wurde er schon ganz gut angenommen.“ Ein Selbstläufer werden wohl weder der Neunprozenter noch der Alkoholfreie.

Im Depot in der Nähe seiner Wohnung lässt sich Héon einen der Neunprozenter geben, den er für ein befreundetes französisches Weingut am Markt durchsetzen will.

Der Verkäufer ist skeptisch: „Für mich ist das kein Wein, ich trinke ja auch keinen koffeinfreien Kaffee“, meint er, und Monsieur Jacques, nicht um eine Antwort verlegen: „Du bist einfach nicht offen, wie viele Deutsche. Aber es ist ein Trend: Der Wein ist leichter, es geht um Gesundheit.“
„Ich bin da Traditionalist“, wieder der Verkäufer, „würden Sie zu Ihrem Geburtstag lieber einen Wein mit neun Prozent Alkohol ausschenken oder einen guten Bordeaux mit dreizehneinhalb?“
„Beide“
„Im Ernst?“
„Doch, wenn ich einen hätte, der schmeckt.“
„Gibt es aber nicht.“
„Noch nicht, wird aber alles kommen.“
Pingpong der Argumente.
„Ich glaub‘ das nicht, ich bleibe konservativ.“
„Es gibt doch inzwischen auch exzellente Weine aus Norwegen und Finnland“, attackiert Héon, „und wer hätte vor einigen Jahren gedacht, dass der Riesling wieder als bester Weißwein der Welt gilt?“
„Wir werden sehen…“, und immer so weiter.
Im Sortiment hat das Depot Héons Neunprozenter anstandshalber doch. Immerhin hat der Wein ja einen regelmäßigen Abnehmer.

Bei Hawesko, der Weinhandelsgruppe, zu der die Jacques‘ Weindepots seit langem gehören, hatte man Jacques Héon einige Jahre lang in den Aufsichtsrat berufen. Der Vorstandschef bescheinigte ihm, er sei kompetent, „aber auch unglaublich nervig“, lächelt Héon. Dem Händler sagt er zum Abschied: „Wir sprechen uns in ein paar Jahren wieder. Dann werden wir sehen, wer Recht hatte.“ Mit zwei Flaschen in der Hand stapft er hinaus, wird vermutlich in wenigen Tagen wieder da sein – losgelassen haben ihn seine Depots nie.

enos-Autor Uli KreikebaumUli Kreikebaum ist Reporter beim Kölner Stadt-Anzeiger. Für enos schrieb er bereits eine Reportage über den Marathon du Médoc.


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News

Brandschäden

Kaliforniens Weinindustrie zieht Bilanz. Nach den verheerenden Feuern der letzten Wochen, in deren Verlauf mehrere Dutzend Menschen zu Tode kamen, tausendE Gebäude zerstört und Zehntausende obdachlos wurden, hat auch die Weinwirtschaft damit begonnen, die Schäden zu saldieren. Auch wenn anfänglich sehr rasch von vollständig zerstörten Weingütern und verbrannten Rebflächen berichtet worden war, scheinen die Zerstörungen den Weinbau weniger hart getroffen zu haben als Industrie- oder Wohngebiete.

Von den insgesamt 1.200 Weinbaubetrieben des nördlichen Kalifornien wurden vermutlich weniger als zehn stark beschädigt oder zerstört. Da der Großteil der Traubenernte zu Beginn der Brände bereits eingebracht war, dürfte auch nur ein kleiner Teil der Produktion unter der starken Rauchentwicklung – selbst im relativ weit entfernten San Francisco war das Tragen von Atemschutzmasken angesagt – qualitativ gelitten haben. Da Weinberge auch deutlich schlechter brennen als Wald- oder Grasflächen, erwarten Beobachter auch in dieser Hinsicht keine nicht zu behebenden Schäden.

Für die stark betroffenen Weingüter wie etwa die Signorello Vineyards, wo die Gebäude fast vollständig niederbrannten, war der Schlag dafür umso heftiger. Das Weingut soll zwar wieder aufgebaut werden, und auf der Website des Betriebs heißt es, das Barriquelager und die Weinberge seien vom Feuer verschont geblieben. Dennoch sind der direkte materielle Schaden und die zu erwartenden wirtschaftlichen Einbußen beträchtlich. Neben Signorello haben die Feuer vor allem in den Weingütern Atlas Peak, Glen Ellen, Paradise Ridge, Frey Vineyards sowie in Teilen von Carneros massive Zerstörungen angerichtet.

Angebrannt

Im Rheinhessischen wusste man noch vor einigen Jahrzehnten zu erzählen, wie sich der Geschmack der Rieslinge von der Rheinfront dramatisch geändert habe, als die Eisenbahnstrecke zwischen Ludwigshafen und Mainz elektrifiziert wurde. Wer das bisher für eine nette, aber auch ziemlich wirr klingende Geschichte hielt, den könnten jüngste Forschungsergebnisse von Forschern der Technischen Universität München (TUM) eines Besseren belehren. Die hatten allerdings keine Dampfloks, sondern eher Waldbrände, wie sie in Südeuropa, Australien oder Kalifornien immer wieder auftreten, im Sinn, als sie den Einfluss von Rauch auf den Geschmack von Weinen wissenschaftlich untersuchten.

Das Interessante an der Fragestellung und vielleicht auch der Grund, warum dieser Einfluss lange nicht ernst genommen, häufig auch mit „rauchigen“ Noten vom Barriqueausbau verwechselt wurde: Rauch- oder Aschenoten sind in der Tat in frisch geernteten Trauben nicht wahrnehmbar, dafür aber können sie sich im fertigen Wein umso qualitätsmindernder bemerkbar machen.

Die Münchener fanden jetzt den Grund dafür: Eigentlich flüchtige Geruchsstoffe werden in den Trauben an Zucker gekoppelt und dadurch olfaktorisch neutralisiert. Durch ein Enzym namens Glykosyltransferase werden dabei die Rauchmoleküle mit Zuckermolekülen verknüpft und dadurch wasserlöslich: Sie verlieren ihren flüchtigen Charakter und sind nicht mehr geruchlich wahrnehmbar. Bei der anschließenden Gärung jedoch spalten die Hefen diese Zuckermoleküle auf, und die Aromabestandteile werden wieder freigesetzt. Erst im fertigen Wein fällt deshalb erstmals auf, so die Autoren der Studie, dass der Weinberg eventuell einem Feuer mit starker Rauchentwicklung ausgesetzt war. Nach der Aufschlüsselung dieses Mechanismus hoffen die Wissenschaftler jetzt, Strategien zu entwickeln, wie das Einlagern oder zumindest die spätere Freisetzung solcher Raucharomen verhindert werden können.

"Mein Haus, mein Auto ...

… mein Weingut“ könnte die Fortsetzung des vollmundigen Spruchs einer bekannten Sparkassenwerbung lauten, wäre diese in Frankreich statt in Deutschland ausgestrahlt worden. In der Grande Nation gilt der Besitz von Weingütern offenbar als eine Art ultimativen Statussymbols für Superreiche. Das jedenfalls suggeriert die jüngst auf decanter.com veröffentlichte Liste der reichsten Franzosen mit Weingutsbesitz.

Bernard Arnault, Eigner des Lifestyleagglomerats LVMH ist nach dieser, ursprünglich vom Challenges Magazine zusammengestellten Liste mit einem Vermögen von 46,9 Mrd. Euro nicht nur der reichste Franzose, sondern auch Eigner der Châteaux d’Yquem und Cheval Blanc im Bordelais, des burgundischen Clos des Lambrays und verschiedener Champagnerkellereien mit dem legendären Haus Krug an der Spitze.

Gleich sechs der zehn Namen, die die Challenges-Liste anführen, rühmen sich mehr oder weniger umfangreichen Weingutsbesitzes. Unter ihnen Axel Dumas aus dem Hermès-Clan, Gérard Mulliez (Auchan Supermärkte), der Flugzeugbauer Serge Dassault, die Wertheimer-Familie (Chanel) und François Pinault (Artémis).

Aber nicht nur unter den Top Ten, auch auf vielen weiteren Positionen der Liste des französische Geldadels finden sich Weingutsbesitzer. Zu ihnen gehören etwa die Eigner der Galeries Lafayette, die Bouygues-Brüder, Benjamin de Rothschild, die Familie Rémy Cointreau, Philippe Sereys de Rothschild und Bernard Magrez. Verglichen mit dieser illustren Gesellschaft erscheint die Besitzstruktur deutscher Weinerzeuger eher wie die „armer Vettern“. Ob das ein Grund dafür ist, dass die französische Weinwirtschaft immer noch so viel größeres Prestige genießt?

Schwarz-weiß-arm

Bereits vor einem guten halben Jahrzehnt sorgte eine Studie der Organisation Human Rights Watch für Aufsehen, in der der südafrikanischen Weinwirtschaft vorgeworfen wurde,„einen Großteil ihres Profits noch immer auf dem Rücken ausgebeuteter Schwarzer …“ zu machen. Jetzt haben sich die im Verbund Oxfam zusammengeschlossenen Hilfs- und Entwicklungsorganisationen zur selben Thematik zu Wort gemeldet. Zusammen mit der südafrikanischen Frauenorganisation Women on Farms Projekt (WFP) befragte Oxfam fast 350 Landarbeiterinnen und ging auch mit den Ergebnissen an die Öffentlichkeit.

Zwar zielt die neue Studie nicht vorrangig auf die südafrikanischen Weinerzeuger, sondern eher auf deren europäische, vor allem deutsche Großabnehmer, Supermarkt- und Discountketten. Diese, so die zentrale Kritik, erzeugten durch ihre Marktmacht enormen (Preis)Druck, der die Winzer am Kap praktisch zur Ausbeutung der vor allem schwarzen Farmarbeiterinnen zwinge. Aber die in den Interviews dokumentierten Zustände werfen auch ein schlechtes Licht auf die Weinwirtschaft Südafrikas. So sollen 20 Prozent der befragten Arbeiterinnen immer noch weniger als den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn erhalten. Gut die Hälfte von ihnen sei bei der Arbeit giftigen Pestiziden ausgesetzt, adäquater Schutz (Masken, Kleidung) werde ihnen nicht zur Verfügung gestellt. Auch sei den Gewerkschaften das Betreten vieler Farmen verboten.

Unbestreitbar ist, dass auf dem Fassweinmarkt nicht nur in Südafrika ein enormer Preisdruck herrscht, der fast immer auch durch die sozialen Schichten nach unten weitergegeben wird. Diesen Druck erzeugen allerdings nicht nur die deutschen Abnehmer südafrikanischen Weins, sondern die Big Player aller Abnehmerländer. Die Oxfam-Studie hätte darüber hinaus sicherlich erheblich an Glaubwürdigkeit gewonnen, wenn in ihr untersucht worden wäre, ob bei den Erzeugern hochpreisiger Weine – und die gibt es ja auch in Südafrika – vielleicht ähnliche soziale Verhältnisse herrschen wie bei den Billiglieferanten. Hinzu kommt, dass der südafrikanische Weinbau aufgrund der Qualität seiner Produkte durchaus die Möglichkeit hätte, sich mehr auf Premiumqualitäten zu konzentrieren. Trotz vieler Absichtserklärungen der Verantwortlichen – enos berichtete darüber – scheint sich in den letzten Jahren in dieser Hinsicht allerdings nicht viel getan zu haben. Fazit: Die Wahrheit ist immer komplexer, als man denkt.


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Wein, Weib und Gesang

von Britt Reißmann

„Wer verehrt Wein, Weib, Gesang, der ist gestraft sein Leben lang!“ Das nicht ganz originalgetreue Zitat, sehr frei nach Martin Luther, hängt seit neuestem goldgerahmt über dem Bett meines Mannes. Mein Nachtschränkchen hingegen schmückt ein Kasten aus Plexig-las, der ein wenig an die Miniaturausgabe eines aufrecht stehenden Schneewittchensargs erinnert. Auch der Inhalt ist so schön, dass er mich zu Tränen rührt. Die Anmut der schlanken Flasche, das Etikett weiß wie Schnee, die geschwungene Schrift schwarz wie Ebenholz und der Inhalt rot wie Blut – das letzte Exemplar eines 2003er Neipperger Schlossberg Samtrot, meines erklärten Lieblingsweins.

Eigentlich ist das Kästchen als ewige Mahnung gedacht. Als eine Art Gedenkschrein. Ich muss die Flasche nur ansehen, und in meiner Erinnerung zerplatzen Weinflaschen auf gekacheltem Steinboden. Aus ihnen rinnt die tiefrote Flüssigkeit wie dünnes Blut. Ich höre das Klingeln der Registrierkasse, sehe das Licht der Neonlampe über dem Ladentisch, das sich im kalt glänzenden Stahl eines Pistolenlaufs bricht.

Ich war Opernsängerin am Stuttgarter Staatstheater, und ich liebte meine Arbeit von ganzem Herzen. Leider teilte ich das Los vieler Opernsängerinnen: Ich war zu dick. Sogar viel zu dick. Die gängigen Ausreden vom großen Resonanzraum und der Kraft, die man zum Singen braucht, hatten längst ausgedient. Als anlässlich einer Kostümprobe zu Bizets Carmen beim Einsatz der Stütze meine Bauchmuskeln der Fettschürze ins Gehege kamen und mir mitten in der Habanera das Mieder platzte, legte mir mein Intendant eine Diät ans Herz.

Für die folgende Spielzeit war Dvořaks Rusalka angekündigt. Ich hatte mich todesmutig für die Hauptrolle beworben. Natürlich war mir klar, dass eine Nixe, die das Publikum eher mit einem Pottwal in Verbindung bringt, auf der Bühne nicht gerade der Knüller sein würde. Vor meinem geistigen Auge sah ich schon mitten in der Arie »An den Mond« meinen Fischschwanz bersten und die silbrigen Schuppen wie Glitzerkonfetti in den Zuschauerraum regnen. Es musste also etwas passieren, und zwar schleunigst.

Ich hatte in den Jahren zuvor schon einige Diäten ausprobiert: Das erste Mal hatte ich mich zum Abspecken entschlossen, als Rigoletto sich weigerte, mich als Gilda in einem Sack über die Bühne zu schleifen. Nicht nur, dass wir einen Sack in Übergröße brauchten; er bekam mich auch trotz Einsatz all seiner Körperkräfte keinen Zentimeter vom Fleck. Die Rolle wurde daraufhin einer jungen Newcomerin übertragen, die zwar kaum halb so gut sang wie ich, dafür aber nur die Hälfte wog.

Daraufhin versuchte ich eine so genannte Mayo-Diät.

Ich brauchte ein paar Tage, bis ich begriffen hatte, dass diese Diät nicht auf Mayonnaise aufbaute, wie ich irrtümlicherweise angenommen hatte. Daher schlug die Waage zunächst in die falsche Richtung aus. Unsere Cellistin meinte, man müsse bei dieser Diät pro Tag bis zu achtundzwanzig Eier essen. Das hielt ich exakt eine Woche durch. Dann bekam ich schon beim bloßen Anblick von Eiern Würgereiz, und mein Mann wollte gewisse Ähnlichkeiten mit einem Huhn bei mir feststellen. Während der Spielzeit der Aida hatte ich nur eine Nebenrolle und dachte, ich könne es mal mit Abführmitteln versuchen. Schließlich blieb mir zwischen den Auftritten genug Zeit, die ich auf der Toilette verbringen konnte. Leider ließ sich das Ganze nicht so gut timen, wie ich gehofft hatte. Während Radames auf der Bühne lautstark seine Aida pries, produzierte ich backstage Geräusche, von denen ich fürchtete, sie würden die Kesselpauken übertönen.

Auch eine Diät mit Lightprodukten, die ich anschließend ausprobierte, brachte nicht den erhofften Erfolg. Das Einzige, was dabei schlank wurde, war mein Geldbeutel. Danach ließ ich das mit dem Abspecken ein wenig schleifen.

Man kann also sagen, Diäten waren für mich so etwas wie Chormädchen für den Intendanten. Ich hatte sie nacheinander ausprobiert und mied sie seitdem wie die Pest. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass keine dieser Hungerkuren von Erfolg gekrönt war. Es musste also etwas ganz Neues her. Etwas Weltbewegendes! Eine Diät ohne JojoEffekt, eine, die Spaß machte, motivierte und bei der man nicht ständig dieses nagende Hungergefühl verspürte.

Durch Zufall stieß ich auf einen Artikel in der Zeitung, in die ich eigentlich gerade die Küchenabfälle einwickeln wollte. Kartoffelschalen und Salatblätter fielen zu Boden. Was kümmerte mich Profanes wie Biomüll, wenn sich gerade die Lösung all meiner Probleme vor mir auftat!Wenig später war ich in der Küche damit beschäftigt, das Abendessen vorzubereiten. Herbert ließ sich im Wohnzimmer von Opernchören beschallen. Er liebte Oper, er liebte mich und im Grunde jedes Gramm an mir. Meinen vielen Diätversuchen stand er nachsichtig gegenüber, so wie eine Mutter den flippigen Freund ihrer Tochter toleriert, den sie zwar nicht sympathisch findet, ihrem Kind aber partout nicht ausreden kann.

„Hast du schon mal etwas von einer Rotweinkur gehört?“, brüllte ich zum Wohnzimmer hinüber, während ich das Kartoffelgratin in den Backofen schob. Als ich den Kopf hob, stand Herbert schon in der Tür. Ich sah dem schicksalsergebenen Gesicht meines Ehemannes an, dass er sich bemühte, dem neuesten Diätprojekt seiner Frau ein größtmögliches Maß an Verständnis entgegenzubringen.

Ich zog den herausgerissenen Zeitungsartikel hervor und zitierte: „Offenbar gibt es im Wein Substanzen, die schlank halten. Die im Rotwein enthaltenen Phenole aktivieren Enzyme, die bei Fadenwürmern direkt mit dem Hungermechanismus in Verbindung stehen.“

Ich riskierte einen Blick auf Herbert. Er starrte mich stirnrunzelnd an, als überlege er angestrengt, ob er mit einem Fadenwurm oder einer Neunzig-Kilo-Frau verheiratet war.

"Trockener Rotwein erhöht den Energieumsatz um ein Vielfaches, wodurch der Körper die Kalorien aus der Nahrung effektiver verbrennen kann“, fuhr ich fort. „Herbert, haben wir vielleicht einen trockenen Rotwein im Keller?“

Herbert starrte zunächst seinen Bierbauch an, dann mich. Also gut, dann nicht. Ich würde es auch ohne seine Hilfe schaffen. Siegesgewiss trug ich zu den Klängen von Verdis Einzug der Gladiatoren das Kartoffelgratin zum Esstisch.

Ich muss gestehen, dass ich als exzessive Konsumentin von Martini-Cocktails und Kir Royal an Premierenabenden in Sachen Wein nicht sehr versiert bin. Genau genommen verstehe ich vom Rotwein so viel wie eine Reblaus vom Koloratursopran. Dennoch war ich fest entschlossen, diese Kur durchzuziehen.

Der nette Mann hinter dem Ladentisch stellte sich als Herr Müller-Thorgauer vor

In einer gut geführten Weinhandlung ließ ich mich beraten. Der nette ältere Mann hinter dem Ladentisch stellte sich als Herr Müller-Torgauer vor und hörte sich mein Problem geduldig an. Dann führte er mich zu einem Weinregal und zog eine Flasche heraus, so behutsam, als wollte er eine Handgranate entschärfen.

„Das, meine Liebe, ist ein Neipperger Schlossberg Samtrot des berühmten Jahrganges 2003. Ein Spitzenwein, barriquegereift und trocken, wie geschaffen für eine Diät“, flüsterte er andächtig und schob seine Halbmondbrille, die ihm auf die Nasenspitze gerutscht war, nach oben. „Eine Mutation des Schwarzrieslings, samtig, geschmeidig, mit fruchtigem Bukett und einer sehr milden Säure. Das ist wichtig für Ihren Magen, weil Sie ja sicher nicht allzu viel essen werden, nicht wahr?“ Er schenkte ein Probiergläschen voll und ließ mich kosten. „Aber Vorsicht, er ist sehr gehaltvoll. Vierzehn Prozent Alkohol.“

Der Wein wärmte die Zunge und hatte eine dezente Kirschnote im Abgang, die mich an meinen geliebten Kir Royal erinnerte. Es war Liebe auf den ersten Schluck. Ich hatte meinen Wein gefunden. Na ja, ganz billig war er nicht. Aber für die Kunst muss man nun mal Opfer bringen.

Ab sofort lebte ich nur noch von Weißbrot, etwas Käse und einem Viertel Rotwein zu jeder Mahlzeit. Zugegeben, anfangs war das etwas gewöhnungsbedürftig, aber bald passten sich meine Geschmacksnerven dem trockenen Wein an, und nach ein paar Tagen konnte ich mich schon kaum noch an den Geschmack von Kir Royal erinnern.

Am Ende der ersten Woche wurde ich mit vier Pfund weniger auf der Waage belohnt. Ich war in Hochstimmung, tanzte durch die Wohnung und trällerte lauthals die Arie aus La Traviata: „»Auf, schlurfet, auf, schlurfet in durstigen Zügen ...“ Sogar Herbert wurde von meiner Euphorie angesteckt. Wobei mir auffiel, dass er hin und wieder mit sorgenvollem Blick den Pegel meiner Weinflasche überprüfte, wenn er meinte, ich sähe es nicht. Völlig unnötig. Ich war überzeugt, alles fest im Griff zu haben.

Als in der zweiten Woche die Gewichtsabnahme stagnierte, beschloss ich, das Brot wegzulassen und es durch ein zusätzliches Viertel Wein zu ersetzen. Den Käse musste ich beibehalten, den brauchte ich zum „Magen schließen“. Damit der Wein auch drin blieb.

Der Erfolg war durchschlagend, was mich ungemein motivierte. Mein Gewicht sank im gleichen Maß, wie mein Alkoholkonsum stieg. Ich war begeistert, da das Hungergefühl im Magen von dem konstanten Alkoholpegel betäubt wurde. Bis auf das eine Mal, als ich während der Aufführung von Madame Butterfly beinahe – aber nur beinahe – in den Orchestergraben stürzte, kam es auch nie zu unangenehmen Zwischenfällen oder Nebenwirkungen.

Den Käse brauchte ich zum "Magen schließen"

In der dritten Woche hatte ich bereits zehn Pfund abgespeckt. In das Carmen-Kostüm passte ich wieder mühelos hinein – ja, es schlackerte mir geradezu am Leib. Aber ich wollte mehr.

Bald hatte ich festgestellt, dass ich viel schneller an Gewicht verlor, wenn ich mehr trank als der Diätplan vorsah. Ich hielt mich schon längst nicht mehr an den Plan, sondern kippte Rotwein, wo ich ging und stand. Der kleine Flachmann, den ich stets bei mir trug, war zu meinem besten Freund und Verbündeten geworden.

Dann kann der Samstagnachmittag der vierten Woche meiner Wunderdiät. Ich hatte mit Erschrecken festgestellt, dass nicht mehr genug Wein fürs Wochenende im Keller war, und die Geschäfte würden gleich schließen. Wie von Furien gehetzt, stürzte ich aus dem Haus, riss das Garagentor auf und sprang ins Auto. Ich fand nicht gleich das Zündschloss und würgte den Wagen in der Aufregung zweimal ab. Als ich aus der Einfahrt schoss, nahm ich eine Ecke des Betonpfeilers mit, aber das kümmerte mich wenig. Hauptsache, ich erreichte die Weinhandlung noch zeitig genug, um meinen Vorrat aufstocken zu können.

An der ersten Kreuzung stutzte ich. Ein rotes Ampelmännchen schien vor mir den Hut zu ziehen und sich zu verbeugen. Hatte ich etwa schon Halluzinationen? Ach was! Ich fand, es hatte allen Grund, mir Respekt zu zollen. Was scherten mich überhaupt diese Ampeln und die mir entsetzt aus dem Weg springenden Menschen? Mein Ziel war klar definiert. Ich nahm noch einen Schluck aus dem Flachmann, während ich geistesgegenwärtig einem rosafarbenen Kaninchen auswich, das ungeachtet des dichten Verkehrs sorglos über die Straße hoppelte.

Endlich kam ich an der Weinhandlung an und parkte den Wagen dicht an einer Straßenlaterne. Zugegeben, etwas zu dicht. Aber die unübersehbare Delle in der Kühlerhaube meines Autos war heute nebensächlich.

Herr Müller-Torgauer bediente gerade einen Kunden, als ich in den Laden trat und zielstrebig auf die Weinregale losmarschierte. Ich bekam den langhaarigen jungen Mann in der Jeansjacke nur am Rande mit, und hörte nebenbei, dass er ein Feuerzeug kaufen wollte. Dabei ließ er sich von Herrn Müller-Torgauer beraten.

Wo war jetzt der Neipperger Schlossberg? Irgend wie sahen diese Flaschen heute alle gleich aus.

Jetzt endlich hatte ich ihn gefunden. Aber das war nicht der Jahrgang 2003, den ich sonst immer trank. Ich wollte mich gerade an Herrn Müller-Torgauer wenden, um nachzufragen, als ich mitten in der Bewegung innehielt. Ich schloss die Augen, kniff sie ganz fest zusammen und öffnete sie wieder. Aber ich sah immer noch dasselbe: Der junge Mann vor dem Ladentisch
bedrohte ganz zweifellos Herrn Müller-Torgauer mit einer Pistole! Ich kannte mich mit Waffen nicht besonders gut aus und konnte eine Pistole kaum von einem Revolver unterscheiden, aber die hier sah verdammt echt aus und ihr Lauf zielte auf den unglückseligen Verkäufer, der sich über die offene Registrierkasse beugte.

Das durfte nicht wahr sein! Angenommen, der Schurke würde den guten alten Herrn niederschießen, dann würde womöglich der Laden geschlossen werden und meine Weinkur wäre zum Scheitern verurteilt! Das konnte ich nicht zulassen. Meinen guten Neipperger Schlossberg Samtrot dieses besonderen Jahrgangs gab es schließlich nur hier.

Geistesgegenwärtig packte ich die Weinflasche, die ich gerade in der Hand hatte, etwas fester am Hals, trat beherzt auf den Übeltäter zu und schlug sie ihm, ungeachtet des stolzen Preises, so fest ich nur konnte auf den Kopf.

Er hatte Glück, dass ich nicht mittig traf; die Flasche streifte ihn nur an der Schläfe und verletzte ihn am Ohr. Zumindest aber ging er zu Boden. Herr Müller-Torgauer stand vor der offenen Ladenkasse und starrte mich fassungslos an.

„Rufen Sie die Polizei!“, wollte ich schreien, aber meine Zunge gehorchte mir nicht. Entsetzt bemerkte ich, wie der Gangster sich wieder aufrappelte, auf mich zukam und versuchte, mir die Weinflasche zu entwenden. Ich wehrte mich so gut ich konnte, musste aber zurückweichen, bis ich schließlich das Gleichgewicht verlor und rücklings in die Weinregale fiel. Wie in Zeitlupe sah ich die Flaschen kippen und von oben auf mich zukommen. Mein letzter Blick galt Herrn Müller-Torgauer, der immer noch wie erstarrt mit offenem Mund hinter dem Ladentisch stand. Dann gingen die Lichter aus.

Im Schnelldurchgang erschienen mir noch einmal alle abgebrochenen Diätversuche

Wie andere im Angesicht des Todes noch einmal ihr gesamtes Leben vor sich ablaufen sehen, erschienen mir im Schnelldurchlauf all meine abgebrochenen Diätversuche. Erst in diesem Augenblick begriff ich, wie sehr diese Kuren mein Leben beherrscht hatten. Dann verharrte mein geistiges Auge auf der Bühne des Staatstheaters. Ich sah mich bis zum Skelett abgemagert als Violetta in La Traviata an Schwindsucht dahinsiechen, schon dem sicheren Tode geweiht. Herbert stand als Alfred vor mir, mit einer riesenhaften Weinkaraffe in der Hand und sang die Introduktion: „Laben wir uns aus den Bechern – trinken wir mit Genuss ...“. Doch beim Anblick des Weins wurde mir plötzlich sterbenselend.

Von einem brennenden Gefühl in der Speiseröhre wachte ich auf und blickte in das besorgte Gesicht des Polizisten, der mir anstatt der Weinkaraffe eine Brechschale vor den Mund hielt. Der Käse hatte heute offensichtlich als Magenschließer versagt.

„Gute Frau, sie waren nahe am Delirium.“ Der Ordnungshüter sah halb besorgt und halb belustigt aus.

Ich traute meinen Augen nicht: Hinter ihm tauchte das Gesicht des Ganoven auf, der mir fürsorglich einen kalten Umschlag auf die Stirn legte. Panisch ergriff ich den Arm des Polizisten und verpasste ihm vermutlich ein paar saftige Hämatome, aber das war mir egal. „Was ist mit Herrn Müller-Torgauer, ist er tot?“, stammelte ich.
„Aber nein, wie kommen Sie darauf?“ Der Totgeglaubte kam gesund und munter auf mich zu und reichte mir eine Tasse dampfenden Kaffees.

„Aber dieser schreckliche Mensch!“ Ich zwang mich, den jungen Mann ins Visier zu nehmen. „Er hat Sie doch mit einer Schusswaffe bedroht!“

Die drei Männer sahen sich einige Sekunden lang verständnislos an, bevor sie nahezu unisono in ohrenbetäubendes Gelächter ausbrachen. Der junge Mann zog die Pistole aus der Tasche und
hielt sie mir vor die Nase. Ich wich zurück. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn.

„Haben Sie das hier etwa für eine scharfe Waffe gehalten?“, grunzte er amüsiert.

Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als er den Abzug betätigte. Eine kleine, blaugelbe Flamme schoss aus der Mündung – mehr aber auch nicht.

„Ein Feuerzeug“, erklärte er. „Ich brauchte ein originelles Geschenk für meine Freundin. Sie ist Kettenraucherin, wissen Sie.  Und Krimifan. Ich wollte es Herrn Müller-Torgauer gerade über den Ladentisch reichen, damit er es als Geschenk verpacken kann, als Sie mir die Flasche über den Schädel zogen. Sind Sie eigentlich immer so spontan?“

Ich starrte die drei abwechselnd fassungslos an und kam mir entsetzlich blöd vor.

Aus purem Mitleid und wohl nicht zuletzt deshalb, weil er Opernliebhaber war, sah der junge Mann von einer Anzeige wegen Körperverletzung ab.  Ich revanchierte mich mit einer Großpackung Kopfschmerztabletten und Opernkarten für ihn und seine Freundin. Den Sachschaden in der Weinhandlung musste ich allerdings begleichen.

Von Diäten jeglicher Art habe ich seither die Nase voll. Während der Entziehungskur, mit der ich nächste Woche beginne, habe ich sicher Zeit, mir zu überlegen, wie ich das Geld für die guten Weine, die ich bei Müller-Torgauer zerdepperte, zusammenbekomme.

Zurzeit denke ich über eine gemeinnützige Arbeit nach, vielleicht in der Küche des Malteser Hilfsdienstes. Köche sind aus Passion dick, die werden garantiert keine Diät von mir verlangen. Und dort bin ich rund um die Uhr mit Essen versorgt. Beim Kochen könnte ich all meine Lieblingsarien singen, ohne einen Gedanken daran verschwenden zu müssen, ob ich in dieses oder jenes Kostüm hineinpasse. Was kann es Schöneres geben?

Die Anstellung bei der Oper habe ich aufgrund meines Alkoholproblems verloren. Dafür fange ich ab der nächsten Spielzeit beim Musical an. In Die Schöne und das Biest spiele ich die Madame Pottine. Ich bin sicher, dass ich bis dahin das Kostüm der Kaffeekanne optimal ausfülle. Und sollte mir das mal zu eng werden, kann ich ja immer noch die Rolle des Kleiderschranks übernehmen.

Britt Reißmann, enos-Autorin

Britt Reißmann schreibtnicht nur Krimis und Kurzgeschichten, sie arbeitet auch bei der Stuttgarter Mordkommission. Für ihren Roman „Der Traum vom Tod“ erhielt sie 2009 den Delia-Literaturpreis.


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Flüssige Träume

Der König und seine Adjutanten

Italien, Piemont, Barolo-Weinberge

Die Zeit der großen, jährlichen Verkostungszyklen im Piemont scheint endgültig vorbei. Zwei Jahrzehnte lang boten sie eine gute Möglichkeit, die jeweils neuen Jahrgänge von Barolo, Barbaresco, Barbera und Co. in professionellem Ambiente zu probieren. Nach der Logik „Es werden immer mehr Weine, also geben wir Euch immer weniger Zeit zum Verkosten“, sollte in diesem Frühsommer eine Alternative zur traditionsreichen „Alba Wine Exhibition“ und ihrem Nachfolger „Nebbiolo Prima“ stattfinden, aber die Rahmenbedingungen waren derart, dass es ratsamer schien, unsere Verkostungen andernorts zu organisieren. Die Cantina Comunale der Barologemeinde La Morra sprang in die Bresche und half.
Was dort zur Probe anstand, war dann allerdings wirklich bemerkenswert. Vor allem die 2013er Barolos zeigten sich von großer aromatischer Tiefe und Komplexität. Gelegentlich wirkten ihre Tannine noch jugendlich hart, versprachen aber auch großes Alterungspotenzial. Nebbiolo at its best sozusagen, wobei es recht gleichgültig war, ob die Weine im Barrique oder im traditionellen großen Holzfass ausgebaut worden waren. Und klar, es bleibt dabei: Barolo ist der Wein der Könige und der König der Weine. Einen Wermutstropfen gab es allerdings: Wir konnten eine Reihe Muster nicht bewerten, weil sie uns fehlerhaft erschienen. Das, obwohl ein eindeutiger Korkschmecker nicht erkennbar war und auch die Kontrollflaschen – so denn vorhanden – einen identischen Fehlgeschmack aufwiesen. Das betraf vor allem Weine, die mit Agglomeratkorken verschlossen waren, aber auch solche mit Naturkork. Sie zeigten merkwürdig verschlossene Aromen und schienen am Gaumen schon nach kurzer Zeit sämtliche organoleptischen Eigenschaften zu verlieren. Und das bei Weinen, deren Erzeuger in den letzten Jahren regelmäßig zu den Allerbesten gehört hatten. Über die Ursachen dieses Phänomens kann man aktuell nur spekulieren, sicher scheint aber, dass die Hoffnung, das Korkproblem sei inzwischen definitiv gelöst, wohl doch sehr trügerisch ist.

Die Top Ten aus Barolo
Renato Corino (La Morra) – Rocche dell’Annunziata 2013, Arborina 2013
Conterno-Fantino (Monforte d’Alba) – Vigna del Gris 2013, Sorì Ginestra 2013
Monfalletto-Montezemolo (La Morra) – Enrico VI 2013, Bricco Gattera 2013
F.lli Revello (La Morra) – Cerretta 2013
Giovanni Corino (La Morra) – Comune di La Morra 2013
Cascina Amalia (Monforte d’Alba) – Le Coste di Monforte 2013
Enzo Boglietti (La Morra) – Vigna Case Nere 2013
Elio Altare (La Morra) – Vigna Arborina 2013

Nebbiolo im Norden

Piemont, Weinbau vor der Alpenkette

Was ein Urlaubswein ist, wissen Sie? Es ist einer, der auf der Terrasse in den toskanischen Bergen, am Strand von Mallorca oder beim Sonnenuntergang an der Côte d‘Azur ganz vorzüglich mundet, sich aber zu Hause in eine Art widerborstig-pubertierenden Wesens verwandelt, dem man am liebsten nur noch aus dem Weg gehen möchte. Das war der Eindruck, den ein Teil der Weine hinterließ, die wir Anfang April im nordpiemontesischen Novara verkosten konnten. Die Appellationen der vier Nordprovinzen hatten zum ersten Mal den Schritt gewagt, die inter-nationale Fachpresse zur Vorstellung ihrer Weine einzuladen.

Allerdings: Unter den präsentierten Weinen, zum größten Teil aus Nebbiolo gekeltert, der hier Spanna genannt wird, waren auch sehr gute und spannende Vertreter. Vor allem Produkte aus den Gemeinden bzw. Herkunftsbezeichnungen Ghemme, Gattinara, Fara und Bramaterra, nicht zufällig auch die bekanntesten der nordpiemontesischen Provinzen, konnten gefallen. Gute Weine kamen auch noch von den Coste della Sesia, während Boca, Lessona, Sizzano und die Weine der Colline Novaresi sowie der Valli Orsonale deutlich anspruchsloser auftraten.

Die Top-Five des Nordens
F.lli Ioppa (Romagnano Sesia) – Ghemme Santa Fe 2011, Ghemme Balsina 2011
Nervi (Gattinara) – Gattinara Vigna Valferana 2011
Antoniotti (Sostegno) – Bramaterra 2013
Francesca Cataldi (Briona) – Fara 2012

Quadratisch, praktisch, gut

Spanien, Rioja, Weinberge im Herbst

Sagt der befreundete Inhaber einer Hamburger Weinbar: „Riojaweine sind wie die Menschen der Gegend – quadratisch, praktisch, gut.“ Was er offenbar meint: Es gibt dort gute, kompakte Weine, denen aber auch gelegentlich aromatische Tiefe und Finesse sowie Eleganz am Gaumen fehlen. Viele Weine sind anfangs verschlossen und brauchen im Glas lange, bis sie sich rund und saftig zeigen. Dabei muss man allerdings festhalten, dass die Rioja sich in den letzten Jahrzehnten deutlich weiterentwickelt hat. Nicht nur ist das Angebot hochwertiger Weine heute breiter aufgestellt, auch die wirklich fragwürdigen, oxidativen und überalterten Weine von einst trifft man seltener an. Das wird auch durch die Tatsache unterstrichen, dass die Weine, die für diese Ausgabe von enos verkostet werden konnten, sich im Schnitt um Längen besser schlugen als die früherer Proben. Die kleine Auswahl sehr guter Muster, die wir dank der Unterstützung der deutschen Agentur des Weinbauverbands verkosten konnten, war allerdings nicht repräsentativ. Weder konnten alle Erzeuger ihre Weine anstellen, noch konnten wir selbst im Vorfeld eine breite qualitative Selektion vornehmen. Es wurde ver-kostet, was auf dem Tisch stand. Eine Situation, die das gute Abschneiden noch bemerkenswerter macht. Erstaunlich war allenfalls, mit welchen Jahrgängen die präsenten Weinbaubetriebe in den Wettkampf gingen: Da standen 2005er und sogar ein 2001er neben 2013er Weinen, und die jüngsten Vertreter stammten gerade mal aus dem Jahr 2014. Was die Qualität der Jahrgänge betrifft, so gaben sich die 2012er und 2011er an der Spitze wenig; dahinter rangierten 2010, 2013, 2009 und 2008. Ob das schwächere Abschneiden der (mit Ausnahme des noch jungen 2013ers) älteren Jahrgänge jetzt allerdings bedeutet, dass die Weine in den letzten Jahren wirklich besser geworden sind, oder dass es um ihre Lagerfähigkeit nicht zum Allerbesten bestellt ist, kann man nach dieser doch recht kleinen Zahl von Mustern nicht sagen.

Die glorreichen Sieben

Muga (Haro) – Torre Muga 2011
Señorio de Arana (Labastida) – Viña de Oja 2012 Reserva
Real (Madrid) – 200 Monges 2001 Gran Reserva
Altos de Rioja (Elvilar de Àlava) – Altos R Pigeage 2012
De la Marquesa (Vilabuena) – Nico by Valserrano 2010
Roda (Haro) – 2011 Reserva
Escudero (Pradejon) – Pradejon Becquer 2012 Crianza

Im Land der Nuraghen

Italien, Sardinien, Nuraghe (2011)

Eigentlich ist ja der rote Cannonau Sardiniens Hauptsorte. Von der sich, anders als bisher geglaubt, herauszukristallisieren scheint, dass sie nicht etwa aus Spanien kommend hier eingeführt wurde, sondern umgekehrt von der italienischen Insel den Weg nach Spanien, Frankreich und in die weite Welt angetreten hat. Das jedenfalls ist die These von Gianni Lovicu, über die wir an anderer Stelle in diesem Heft ausführlich berichten.

Aber erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Die hochsommerlich heiße, kurze Reise ins sardische Nuoro, die eigentlich einige der schönsten Roten aus Cannonau zu Tage bringen sollte, endete nämlich mit einem Besuch bei Paolo Contini im nahen Cabras. Und der schenkte dann Weine ein, gegen die alle anderen verblassten. Continis verschiedene Füllungen der Vernaccia di Oristano zeigten nicht nur ungewöhnliche Komplexität und Kraft, sondern auch eine Langlebigkeit, die ihresgleichen sucht.

Da war etwa dieser Wein des Jahrgangs 1970. Schon allein der Jahrgang! Und dann wurde der aus einer Flasche ausgeschenkt, die angeblich seit zwei oder drei Jahren offen war. Deren Inhalt aber dessen ungeachtet immer noch großartigen Duft und tolle geschmackliche Frische zeigte. Unglaublich, und hätte man nicht schon zuvor die eine oder andere ähnliche Erfahrung gemacht, man hätte den Winzer ob seiner Angaben über die Flasche auch schlicht für einen Lügner halten können.

Der Gerechtigkeit halber sei gesagt, dass sich auch die anderen präsentierten Appellationen als gut oder gar sehr gut erwiesen, allen voran einige Carignano del Sulcis, gefolgt von den Cannonau-Weinen der Regionalappellation und von denen aus dem Mandrolisai-Gebiet.

Schade, dass sardische Weine außerhalb der Insel leider immer noch viel zu wenig bekannt sind. Obwohl doch der Trend schon seit geraumer Zeit hin zu autochthonen, besonderen und unverwechselbaren Rebsorten geht. Ob’s daran liegt, dass die Sarden jahrhundertelang zurückgezogen lebten, den Kontakt mit der Welt außerhalb ihrer Insel mieden? Dass auch heute noch die Verbindungen zum Festland – materielle wie die kommunikative – schlechter sind als die zwischen Mailand und New York oder Shanghai?

Vernaccia und Company

Attilio Contini Spa (Cabras) – Vernaccia di Oristano Antico Gregori o. J. Vernaccia di Oristano 1970, Vernaccia di Oristano 1991 Riserva
Fradiles Vitivinicola (Atzara) – Mandrolisai Superiore Istentu 2012
Giuliana Puligheddu (Oliena) – Cannonau di Sardegna Cupanera 2015
Sant’Antioco-Sardus Pater (Sant‘Antioco) – Carignano del Sulcis Is Arenas 2014
Santadi (Santadi) – Carignano del Sulcis Rocca Rubia 2014 Riserva, Carignano del Sulcis Terre Brune 2013, Isola dei Nuraghi rosso Igt I Giganti 2014
Bingiateris Ssa (Ortueri) – Mandrolisai Lolloré 2014


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Holunder im Watt

mit René Dittrich

Rnée Dittrich, Alt Wyk, Wyk auf Föhr, Deutschland

Es gibt nicht wenige Köche, die hassen es, wenn man sie fragt, ob sie einige ihrer Rezeptideen vielleicht einem Schluck Wein oder dem Besuch eines Weinguts verdanken. Bei ihnen steht immer das Gericht im Vordergrund, der Wein gilt allenfalls als leises Begleitinstrument. Anders bei René Dittrich, dem Sternekoch aus Wyk auf der Nordseeinsel Föhr. Der verbindet die Entstehung gleich mehrerer seiner Kreationen ganz ausdrücklich mit einem eigenen Weinerlebnis.

Da spielt dann mal Rhabarber die Hauptrolle oder aber auch der Holunder, besser die Holunderblüte, wie bei diesem Gänseleberstrudelrezept. Das entstand anlässlich eines Weinabends, wie sie der Wahlföhrer jedes Frühjahr für seine Stammgäste veranstaltet und dazu Winzer einlädt, deren Etiketten er auf seiner Weinkarte anbietet. Ein netter Abend im kleinen Kreis, und der Gedanke an Holunder stellte sich beim Verkosten des 2015er Elsässer Gewürztraminers der Genossenschaft aus Hunawihr so spontan wie zielsicher ein.

Aber Föhr? Ausgerechnet die Watteninsel, die jahrzehntelang allenfalls als (klein)bürgerlicher Schat-ten des mondänen Sylt gegolten hatte? Nun, die beschaulichen und ruhigen Zeiten sind auch in dieser Ecke des Watts vorbei. Zwar ist die Insel zum Glück noch nicht so „Schicki-Micki“ wie der berühmtere Nachbar geworden, aber nicht zuletzt auch wegen der Präsenz von Dittrich hat auch zwischen Wyk, Nieblum und Utersum die kulinarische weite Welt Einzug gehalten.

Dittrich selbst, den Erzgebirgler aus Chemnitz, verschlug es nur auf Umwegen hierher. Nach der Wende suchte und fand er 1990 eine Lehrstelle in Lindau am Bodensee, und nachdem feststand, dass die Gourmetküche seine Welt werden sollte, folgten Stationen bei einigen der renommiertesten Köche Deutschlands: Dieter Müller, Lothar Eiermann oder Horst Petermann etwa. Sieben Jahre an der Seite von Roland Jöhri im „Talvò“ von St. Moritz ließen auch den Wunsch nach Selbständigkeit reifen.

Mit Jöhris Abschied vom „Talvò“ war dieser Moment gekommen, und seit 2011 kocht Dittrich im Nordfriesischen. Schon ein Jahr später gab es den Michelin-Stern, den das „Alt Wyk“ bis heute führen darf. Nein, „friesisch“ oder auch nur „nordisch“ kocht er hier nicht, vielmehr hat er die internationale, deutlich französisch geprägte Küche seiner bisherigen Stationen mitgebracht und angepasst, auch wenn dabei im Vergleich zu St. Moritz zumindest bei den Zutaten eine gewisse Bodenständigkeit Einzug hielt. Die dann aber auch wie angegossen auf Chef und Haus passt. Zu den vielen, mehr oder weniger begnadeten Selbstdarstellern der aktuellen (Show)Gastronomie gehört Dittrich nämlich eher nicht, und wer Biographisches oder Autobiographisches im Internet sucht, muss sich mit wenigen, dürftigen Auskünften begnügen. Zurück zum Rezept. Klar, mit der Assoziation namens „Holunderblüte“ war gerade einmal der erste Schritt zur neuen Kreation getan. Danach kam es darauf an, gleich für eine ganze Serie verschiedener geschmacklicher und aromatischer Eindrücke des Weines die passenden Zutaten zu suchen und zu finden, und diese dann zu einem fertigen Gericht zu kombinieren – Gänsestopfleber, Spinat, Strudel-teig, Sellerie sowie eine Ochsenschwanzessenz.

Gericht von René Dittrich, Wyk auf Föhr

Die Zutaten
für 10 Personen

Für den Strudel

600 g Gänsefettleber zum Braten
200 g Spinat, große Blätter
5 Blatt Strudelteig
80 ml geklärte Butter

Für das Püree

1 kg Sellerie
150 g Butter
Salz, Pfeffer, Muskatnuss

Für die Sauce

kg Geflügelkarkassen
5 kg Ochsenschwanz
2 kg Mirepoix (grob gewürfelte und angeröstete Karotten, Sellerie, Zwiebeln)
200 g Tomaten
1 kg Klärfleisch
10 Eiweiß
500 g in grobe Stücke geschnittene Karotten, Sellerie, Lauch
40 g Holunderblüten
Salz, Pfeffer

Die Zubereitung

Für die Ochsenschwanzessenz werden die Geflügelkarkassen mit einer Hälfte des Mirepoix-Gemüses angeröstet, gut gekocht und anschließend passiert. Für den zweiten Ansatz wird der Ochsenschwanz angeröstet, das restliche Mirepoix zugegeben und nochmals gekocht. Anschließend wird das Ganze wieder passiert. Danach wird die Essenz mit dem Klärfleisch, Eiweiß und dem restlichen Gemüse geklärt.

Für den Strudel wird die Gänseleber gesalzen und gepfeffert und anschließend in die Spinatblätter eingewickelt. Der Strudelteig wird mit Butter bestrichen und die Gänseleber-Spinat-Packung darin eingewickelt. Der Strudel wird dann von allen Seiten angebraten und im Ofen so lange fertig gegart, bis die Gänseleber eine Kerntemperatur von 40 bis 42 Grad erreicht hat.

Für das Selleriepüree wird der Sellerie geschält und weichgekocht, anschließend wird die Butter dazugegeben und die Masse fein püriert. Zum Schluss wird mit Salz, Pfeffer und Muskatnuss ab-geschmeckt.

Die Holunderblüten werden mit der Ochsenschwanzessenz aufgekocht, 10 Minuten ziehen gelassen und abschließend passiert.

Restaurant Alt Wyk
Große Straße 4, 25938 Wyk auf Föhr
info@alt-wyk.de

Fotos, soweit nichts anderes angegeben © Eckhard Supp

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