Das kleine Haitzendorf in der Nähe der niederösterreichischen Weinhauptstadt Krems gehört nicht wirklich zu den renommierten Weinbaugemeinden der Region oder gar des Landes. Und dennoch könnten der Ort und sein architektonisches Prunkstück, das im Stil des historischen Romantizismus erbaute Schloss Grafenegg der Familie Metternich-Sándor, eine entscheidende Rolle in der Ausgestaltung der österreichischen Weinwirtschaft spielen. Hier werden die Grundlagen für ein überaus ambitioniertes Projekt geschaffen, das es Österreichs Winzern in Zukunft erlauben soll, sich noch erfolgreicher auf den internationalen Märkten zu bewegen. „ÖTW“, so lautet das Kürzel, hinter dem sich das Projekt versteckt; Es steht für „Österreichische Traditionsweingüter“, eine Vereinigung, die vor etwas mehr als 30 Jahren gegründet wurde und die seit gut einem Jahrzehnt jeweils im Spätsommer viele Dutzend Weinverkoster und Weinkritiker aus aller Welt ins noble Ambiente des Schlosses einlädt. Die nehmen dort hunderte Weine aus inzwischen fast ganz Österreich unter die Lupe, pardon, auf die Zunge.
Es ist auf den ersten Blick eine ganz gewöhnliche Verkostung, der sich die geladenen Experten in der großen Reithalle des Schlossparks widmen – schwenken, riechen, gurgeln, schreiben. Eine der Art, wie sie in allen Weinbauländern der Welt Jahr für Jahr gleich dutzendfach stattfinden. Und doch ungewöhnlich, betrachtet man das, was auf die Verkostung folgt. Wer hier teilnehmen will, muss sich nämlich verpflichten, seine Weinbewertungen einer anschließenden „Ausbeutung“, sprich einer statistischen Auswertung durch die Organisatoren zu überlassen: genauer, durch den ÖTW-Chef Michael Moosbrugger, Hausherr auf dem bekannten Kamptaler Weingut Schloss Gobelsburg.
Obmann – so nennen sich Vereinsvorsitzende in Österreich – der ÖTW ist Moosbrugger bereits seit gut 15 Jahren. Als er die Funktion übernahm, setzte er sich das Ziel, eine Systematik für die Entwicklung einer Lagenklassifikation zu entwickeln. „Das stand ja als primäres Ziel der Vereinigung in unseren Statuten, und das habe ich zur Diskussion gestellt. Ich habe jedes einzelne Mitglied gefragt, worin es die Aufgabe des Vereins sieht. Ein solcher Verein ist ja immer noch eine demokratische Einrichtung, und die Mitglieder hätten sich auch anders entscheiden können. Ich habe dann damit begonnen, eine solche Systematik zu entwickeln, die auf verschiedenen Relevanzkriterien aufbaut, eine, mit der man die Bedeutung einzelner Weingärten messbar machen kann, und 2009 haben wir einen neuen Anlauf gemacht.“
Schloss Grafenegg in Haitzendorf bei Krems ist alljährilch Schauplatz einer Verkostung von Hunderten österreichischer Weine, zu der Experten aus vielen Ländern der Welt geladen werden. Die Riege ist illuster: Stefan Reinhardt (li./o.) schreibt für den von Robert Parker gegründeten Wine Advocate, Peter Moser (m.) ist Chef der Weinseiten des österreichischen Falstaff Magazins, und Stuart Pigott (re./u.) ist Buchautor und gilt als ausgesprochener Riesling-Experte.
Ein neuer Anlauf war notwendig, weil erste Versuche des schon 1990/91 gegründeten Vereins „im Sande verlaufen“ waren. Die Gründe für dieses erste Scheitern sind schnell aufgezählt. Der wichtigste war wohl, dass ursprünglich nur wenige Weingüter aus lediglich zweien der insgesamt knapp 20 Weinbaugebiete Österreichs mitspielten. Das allein setzte vor allem den organisatorischen und kommunikativen Möglichkeiten enge Grenzen. Sehr enge Grenzen, vor allem, wenn man die österreichischen Anstrengungen mit denen des deutschen VDP vergleicht, der seine Idee der Großen Gewächse immer mit deutlich mehr Manpower kommunizieren konnte, weil er seit Jahrzehnten an die 200 Mitgliedsbetriebe hat, wie Moosbrugger betont. Und so muss es im Rückblick nicht erstaunen, dass das Projekt der ÖTW über die Jahre außerhalb der Grenzen Österreichs kaum einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht werden konnte.
Eine Rolle bei diesem Scheitern spielte sicher auch, dass die ersten Ideen einer Klassifizierung zu stark aus der Perspektive der Kamp- und Kremstaler Winzer skizziert wurden: So sah die 1991 vorgeschlagene Qualitätspyramide Erste und Große Lagen ausschließlich für Weißweinsorten vor, die Roten mussten sich mit „klassifizierten Lagen“, der niedrigsten Stufe, zufriedengeben. Hinzu kam, dass der Gedanke an Herkunftsbezeichnungen nach romanischem Vorbild generell auf viel Widerstand stieß. Man darf nicht vergessen, dass der österreichische Weinbau damals noch wie der deutsche strukturiert war – mit Rebsorten und Mostgewichten als Qualitäts- bzw. Bedeutungskriterien. DAC-Herkunftsbezeichnungen (Districtus Austriae Controllatus) wurden ja erst mit den Nullerjahren wirklich eingeführt, und sowohl die Österreichische Weinmarketingorganisation als auch zahlreiche Winzer maßgeblicher Weinbaugebiete (Wachau, Burgenland etc.) standen der Idee einer Legenklassifizierung nicht wohlwollend gegenüber, um es einmal ganz vorsichtig auszudrücken.
Bei so viel Kritik und Ablehnung stellt sich natürlich die Frage nach dem Warum einer solchen Idee, die sich vor allem am Beispiel der französischen Paraderegionen orientierte. Michael Moosbrugger holt weit aus, wenn er über die die Motive der ÖTW-Winzer spricht. „Im Rückblick“, erklärt er, „ist die ganze Sache schon erstaunlich“.
Man muss sich an die damalige Situation erinnern. Anfang der 1990er Jahre waren alle Augen auf Bordeaux gerichtet, das Maß aller Dinge mit seiner Klassifizierung, die ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Die italienischen Super-Tuscans hatten ihre Karriere gerade erst begonnen, Burgund war nur unter wirklichen Spezialisten eine wichtige Destination, die letztlich aber als unzuverlässig und kompliziert galt. Und wo die Klassifizierung ja auch nicht hunderte Jahre alt ist, wie oft kommuniziert, sondern erst 1934 begonnen und 1974 abgeschlossen wurde.“ Dass man sich Bordeaux als Vorbild nahm, war umso erstaunlicher, wenn man weiß, dass die Bordeaux-Klassifikation auf der Basis der Verkaufspreise und auf dem geschichtlich gewachsenen Hintergrund kompakter, großer Weingutsstrukturen, nicht zersplitterter Kleinstparzellen wie in Österreich oder Deutschland erstellt wurde.
„Um das alles zu verstehen, muss man zuerst mal mit einem Missverständnis aufräumen. Viele glauben ja, und das ist auch die Idee hinter der Klassifizierung des deutschen VDP, man klassifiziere mit solchen Systemen die Qualität eines Weingartens. Allerdings hat keine Klassifikation der Welt jemals die Qualität von Weingärten klassifiziert. Selbst wenn man es versuchte, wäre das zum Scheitern verurteilt. Denn dann müsste man zuerst einmal genau definieren, was Weinqualität überhaupt ist, und wäre dann schon am Ende. Da ist der Ansatz von Bordeaux, über den Preis zu klassifizieren, ehrlicher.“
Hinter einer solchen Aussage steckt die Überzeugung, dass es bei allen funktionierenden Klassifikationssystemen nicht zuerst um eine irgendwie geartete „natürliche“ Qualität von Weinbergslagen geht, wie sie auch der VDP zu definieren versucht, sondern um deren Bedeutung. Genauer, um ihre Marktbedeutung, die neben Weinbergs- und natürlich Weinqualität noch auf einer ganzen Reihe weiterer Faktoren beruht. In der Idee der ÖTW und ihres Chefs kommen deshalb auch mehr als ein halbes Dutzend solcher „Relevanzkriterien“ zum Tragen. Die „multifaktorielle“ Analyse beginnt für Moosbrugger mit historischen Fragestellungen: „Seit wann kennen wir einen Weingarten, seit wann ist er namentlich dokumentiert? Es gibt Weingärten, die kennen wir seit 1.000 Jahren, weil sie schon damals bedeutend waren. Und es gibt solche, die kennen wir erst seit der Schaffung des französischen Katasters im Jahr 1923, oder sie sind noch jüngeren Datums.“ Damit verbunden: Seit wann wird der Weinberg unter seinem Namen vermarktet?
Dann gibt es die subjektive Einschätzung der Winzer“, fährt Moosbrugger in seiner Aufzählung fort, „welche ihrer Lagen für sie besonders wichtig sind, wobei oft eine erstaunlich homogene, kollektive Einschätzung zum Vorschein kommt. Außerdem schauen wir uns natürlich die physischen Komponenten an, die Homogenität der Böden etwa oder die des Mikroklimas und der Ausrichtung. Schwieriger wird es bei der mikrobiologischen Komposition der Böden, denn da gibt es natürlich große Unterschiede zwischen Betrieben, die etwa stark düngen und spritzen, und solchen, die biologisch oder biodynamisch arbeiten. Dagegen ist wichtig, welcher Prozentsatz der Weine von einer Lage wirklich als Einzellage vermarktet wird, welche Preise erzielt werden – gibt es ein einheitliches Preisgefüge oder große Unterschiede? Genauso wichtig ist die Distributionsstärke. Auf wie vielen Märkten wird ein Wein verkauft? Und dann kommen die Verkostungen von Grafenegg hinzu, die Resultate der internationalen Experten. Weil die aber nicht ‚blind‘ verkosten und deshalb das Image einer Lage ihr Ergebnis beeinflussen könnte, probieren wir die Weine anschließend nochmal vereinsintern und ‚blind‘.“
Eine Heidenarbeit, stöhnt Moosbrugger ein wenig. „Wenn man dann schließlich all diese Parameter zu einer multifaktoriellen Analyse verknüpft, ergibt sich daraus das, was wir die Klassifikationsstärke nennen. Das ist dann ein Wert, der zwischen 80 und 35 Prozent für die einzelnen Lagen schwanken, und mit dessen Hilfe man die einzelnen Kategorien oder Klassen einteilen kann.“ Letztlich, ist der ÖTW-Chef überzeugt, ist das Ganze dann sogar deutlich tiefgründiger als die Klassifikationen im Bordelais, wo das Spiel der Preise heute deutlich weniger aussagekräftig ist als noch Mitte des 19. Jahrhunderts. Und natürlich auch aussagekräftiger als die des Burgund, wo schon traditionell oft gravierende Qualitätsunterschiede innerhalb einzelner Lagen existierten, und wo sich mit der Auflösung traditioneller Sozialstrukturen auch das Gefüge der Klassifikationen änderte.
Als diese Appellationen und Klassifikationen entstanden“, bestätigt Moosbrugger, was wir auf diesen Seiten schon mehrfach im Rahmen der „Terroir“-Diskussionen schrieben, „war das gemeinschaftliche Gefüge noch ein ganz anderes. Das kollektive Denken war wesentlich ausgeprägter, und die Definition der Appellationen war im Grunde nur eine Niederschrift der gängigen, immer einer recht strengen sozialen Kontrolle unterworfenen Praktiken. Heute dagegen etwa einen geschmacklich einheitlichen Riesling vom Langenloiser Heiligenstein zu kreieren, ist viel schwieriger, als man denken könnte. Heute müssten wir dazu all die Individualisten des Gebiets unter einen Hut bringen.“
Letztlich geht es, wie so oft, um’s Verkaufen. „It’s the economy, stupid“, könnte man im Sinne des Clinton’schen Wahlkampf-Slogans von 1992 sagen. Und vermutlich haben Lagenklassifikationen weit mehr mit Marketing zu tun als mit Geologie, Biologie oder Chemie, ganz so, wie es ja beim „Terroir“-Begriff der Fall ist, auch wenn das viele in der Weinwelt auch nach Jahrzehnten intensiver, teilweise heftiger Diskussionen nicht wahrhaben wollen. Moosbrugger schaut zurück. „In den letzten 50 Jahren war die Vermarktung der Weine über Rebsorten in unserer Kommunikation und Selbstdarstellung zentral. Ein Appellationssystem“, er spielt auf die Einführung der DAC an, „verändert diese Denkweise: Es hat Vorteile und Nachteile, die immer offensichtlicher werden, je mehr man sich damit auseinandersetzt.“
Der große Nachteil von Appellationen ohne Klassifizierung ist, dass, je kleiner die Herkunftsebene, desto größer die Anzahl Begriffe, die du in der Vermarktung zu kommunizieren hast. Wir haben jetzt 18 Appellationen in Österreich, auf der Ortsebene reden wir von 900 Begriffen und auf der Lagenebene von 4.300, mit denen wir agieren. Das ist eine wirkliche kommunikative Herausforderung, vor allem, wenn man berücksichtigt, dass es da am Ende nur um Miniaturmengen pro Lage geht. Wenn dann in New York ein Sommelier mit einer Flasche Heiligenstein zum Gast kommt, riskiert er, dass der ihm bedeutet, den Namen noch nie gehört zu haben und nicht einschätzen zu können, was er bedeutet: Sauacker oder Spitzenlage. Dagegen ist es sehr viel leichter, den Qualitätsanspruch einer Kategorie zu kommunizieren, und zwar in der ganzen Kommunikationskette, vom Winzer bis zum Sommelier.“
„Wenn ich heute in China bin, schenkt ein Sommelier meinen Weinen genau zwei Minuten Aufmerksamkeit. In dieser Zeit muss ich ihn davon überzeugen, dass er sich keinen Bruch hebt, wenn er einen Wein aus Österreich verkauft. Und das geht mit drei Kategorien einfacher als mit 4.300 Lagennamen. Nur dann ist es möglich, dass wir in Asien oder Amerika zumindest eine gewisse Nische ausfüllen. Das ist die Art des Storytellings, derer sich Bordeaux so erfolgreich bedient hat.“
Natürlich ist die Entwicklung einer solchen Klassifizierung, die nicht dahingeschludert sein soll und wirklich Wirkung haben kann, keine einfache Sache und auch nicht an einem Tag erledigt. Moosbrugger ist da erstaunlich realistisch: „Wir haben immer gesagt, die Arbeit an der Klassifikation ist anberaumt auf 35 bis 40 Jahre. Allein der Prozess der Definition der Ersten Lagen dauert mindestens 15 bis 20 Jahre, der für die Großen Lagen weitere fünf bis zehn oder mehr Jahre. Das Problem ist, dass dieser Prozess kontinuierlich weitergeführt werden muss, weil sich ja auch die Bedingungen ändern. Die Märkte ändern sich, die Akteure, das Klima ändert sich.“
Es wirkt wie eine echte Sisyphusarbeit, ein Erkenntnisprozess von Hegel‘scher Verschachtelungstiefe, für die Ewigkeit gedacht und dennoch mit dem Schicksal, wohl nie wirklich vollendet zu sein. Dass das „Modell ÖTW“ trotz dieser „trüben“ Zukunftsaussichten im österreichischen Weinbau weithin überzeugt hat, beweist die Teilnahme von immer mehr Weinbaugebieten und Weingütern an der Arbeit des Vereins und an den Verkostungen in Grafenegg. Ursprünglich waren ja nur Kremstal und Kamptal dabei. Im Laufe der Jahre kamen dann das Traisental, der Wagram, Wien, das Carnuntum und die Thermenregion hinzu. Österreichs größte Weinbauregion, das Weinviertel wartet bereits an der Eingangstür, und mit der Wachau sowie mit der Steiermark ist man im Gespräch. An Michael Moosbrugger soll es nicht liegen, wenn eines Tages ganz Wein-Österreich mitspielt. Eine erste Feuerprobe für die Praxistauglichkeit des Konzepts dürfte der Moment sein, in dem die Lagen der untersten Klasse feststehen, ganz im Sinne der ÖTW, bei denen man im Unterschied etwa zum deutschen VDP nicht elitär „an der Spitze“ mit der Klassifizierung anfangen will, sondern an der Basis, bei den „einfacheren“ Lagen.
Dieser Artikel wurde zuerst in enos 1/2023 veröffentlicht.
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