Er war eine, wenn nicht sogar die Gallionsfigur schlechthin des deutschen Weins in einer Zeit, als Deutschlands Rieslinge nach langen Jahren pappig-süßer Massenprodukte langsam, Schritt für Schritt auch international wieder salonfähig wurden. Er war der Glamourfaktor, in aller Welt unterwegs als Winzer, als Präsident des Rheingauer Weinbauverbands, Weinbotschafter, exzellenter Redner, humorvoller Zeitgenosse.
Dabei hatte Erwein Graf Matuschka-Greiffenclau mit Wein und Weinbau ursprünglich gar nichts im Sinn. Das trotz des ausgedehnten Weinbergsbestands am Stammsitz der Familie, dem Rheingauer Schloss Vollrads. Graf Matuschka hatte Jura, Betriebswirtschaft und Marketing studiert und seit dem Ende der 1960er Jahre als Marketingchef für die Frankfurter Deutschlandzentrale des Büromaschinenherstellers Olivetti gearbeitet.
Am 19. August 1997 setzte der „Weingraf“, wie sie ihn auch nannten, unweit des elterlichen Schlosses, dessen Leitung er Jahre zuvor übernommen hatte, seinem Leben ein Ende. Er hinterließ vier Abschiedsbriefe: einen für die Lebensgefährtin, einen für die zweite Tochter, einen für das Personal von Schloss Vollrads und einen für die Öffentlichkeit.
Über die Gründe für Matuschkas Freitod wurde viel spekuliert. Für die meisten lagen und liegen sie auf der Hand. Es war ja bekannt, dass das Vollrads‘sche Weingut defizitär war, dass der Druck durch die Hausbank immer größer wurde. Und so steht auch noch heute für Wikipedia der letztlich Schuldige in Gestalt der Nassauischen Sparkasse (Naspa) fest: „Nach dem Freitod von Erwein Graf Matuschka-Greiffenclau aufgrund des Konkursantrags gegen ihn durch die Naspa …“, heißt es dort in einem kurzen Portrait.
Aufgrund …! Wie so oft sind die Dinge auch hier sehr viel komplexer, verworrener; das simplifizierende Suchen nach dem Schurken der Geschichte führt auch in diesem Fall in eine Sackgasse. Dass ein erfolgreicher Manager mit Schulden oder gar einer drohenden Insolvenz nicht klargekommen sein soll, klingt jedenfalls unwahrscheinlich. Zudem, wenn dieser Manager sich durch Marketinginitiativen gleich im Dutzend auszeichnete, die für den gesamten deutschen Weinbau „stil“prägend werden sollten: Lukullische Weinproben, Veranstaltungen mit Bankern und Industriellen, die anspruchsvolle Gastronomie im Schloss selbst und im Grauen Haus am Rheinufer. Und nicht zuletzt galt Matuschka, wie der Spiegel nach seinem Tode schrieb, als „blendender Verkäufer“.
Offenbar hatten ja selbst im Moment der drohenden Insolvenz durchaus Möglichkeiten bestanden, die finanziellen Schwierigkeiten zu lösen. Es gab interessierte Investoren und auch die adlige Verwandtschaft wollte helfen – allerdings, wie einer der Beteiligten anklingen lässt, wohl vor allem, um zu verhindern, dass der Stammsitz in bürgerliche Hände fiel.
Bleibt die Frage, was Matuschka wirklich in den Freitod trieb. Einer derjenigen, die ihn aus langen Jahren der Zusammenarbeit gut kannten, war sein Gärtner, der heute 80-jährige Karl-Heinz Bergmann. enos fuhr in den Rheingau, um sich seine Geschichte erzählen zu lassen.
Das Steinkreuz hoch über dem Schloss und seinen Weinbergen ist wohl der beste Ort, mit einer Spurensuche zu beginnen. Von hier aus geht der Blick weit über den Rhein und die Weinberge an beiden Ufern. Bergmann hat sich auf die Bank gesetzt, auf der Matuschka seine letzten Lebensminuten verbrachte. Das Schloss, der Schlosshof und die Wirtschaftsgebäude sind von hier oben einsehbar.
Das muss auch im August 1997 so gewesen sein, wiewohl der umgekehrte Blick durch das dichte sommerliche Reblaub nicht möglich war. Es erklärt, warum niemand den Grafen hier oben sitzen sah, als die Suche nach ihm längst begonnen hatte. Die Abschiedsbriefe waren gefunden worden, seine Lebensgefährtin hatte Alarm geschlagen, die Polizei war auf dem Schlosshof. Über den Weinbergen kreiste ein Suchhubschrauber der Polizei. Aus der Ermittlung des Todeszeitpunkts durch den Gerichtsmediziner scheint im Nachhinein klar: Matuschka muss all das noch miterlebt haben, bevor er zum Revolver griff. Schlussfolgert Bergmann und macht sich schweren Schrittes auf den Weg zurück ins Schloss.
1973, erinnert er sich am großen Esstisch im einstigen Wohnbereich der Eltern Erweins, Graf Richard und Gräfin Eleonore, hatte er sich um die Stelle als Gärtner im Schloss beworben. Nach dem Tode Graf Richards kaum zwei Jahre später wurden die Verhältnisse auf Vollrads allerdings unübersichtlicher. Der älteste Sohn, Graf Karl, dem eigentlich die Erbfolge zustand, schlug sie aus – bürgerlich durfte in Adelskreisen nicht geheiratet werden. „Obwohl er ja Weinbau studiert hatte, Graf Erwein dagegen nicht. Der war dann der zweite in der Erbfolge, war aber noch durch seinen Vertrag bei Olivetti gebunden. Deshalb machte dann der dritte Bruder, Graf Ernst, im Namen seines Bruders zunächst den Chef.“
Im Grunde sind es zwei völlig gegensätzliche Welten, die auf Vollrads aufeinanderprallen. Die der modernen Ökonomie, die Erwein Graf Matuschka lebt, und die der 27 Generationen Matuschka-Greiffenclau. Karl-Heinz Bergmann kennt auch diese Geschichte. Reiht Jahreszahl an Jahreszahl, nennt die Namen, die Würdenträger, die Schlosserbauer. Turm für Turm, Gebäude für Gebäude. Enzyklopädisch. Schließlich ist er seit seiner Pensionierung auch mit Führungen für die Schlossbesucher betraut. Klar, dass er weiß, dass die Familie Greiffenclau ursprünglich im Winkeler Grauen Haus, dem ältesten erhaltenen Haus Deutschlands, residierte. Dass Friedrich von Greiffenclau, ein Botschafter der Erzbischofs von Mainz, 1330 das erste Turmhaus baute, das noch heute erhalten ist. Dass das jetzige Herrenhaus erst 300 Jahre später entstand.
Die beiden Welten spiegeln sich in der Person Graf Erweins: auf der einen Seite der Manager, der Marketingprofi, und auf der anderen der Spross eines uralten Adelsgeschlechts, der Graf Erwein Maria Eberhard Josef Benedikt Martin von Matuschka, Freiherr von Greiffenclau, Freiherr von Toppolczan und Spaetgen, wie Matuschka mit vollem Namen hieß. Bergmann erzählt, dass Matuschka zu betonen liebte, wie wenig Wert er auf den Grafentitel legte. Was ihm der Gärtner aber nie wirklich abnahm. „Er hat ja bei Olivetti Visitenkarten gehabt, und da stand natürlich Erwein Graf Matuschka, Marketingdirektor, nicht etwa nur Herr Erwein Matuschka“.
Und dann das Kapitel Frauen. Die erste, 1965 geschlossene, kinderlos gebliebene Ehe mit Sophie Gräfin von Waldburg-Zeil-Trauchburg, wird einige Jahre nach dem Tode des Vaters geschieden. Die nächste Lebenspartnerin verlässt schwanger das Schloss. Aus einer zweiten, diesmal bürgerlichen Ehe stammt Tochter Nummer zwei, und in den letzten Jahren vor seinem Tod lebt Erwein mit Partnerin Nummer vier. Sein Verhältnis zur Mutter war offenbar praktisch seit dem Tode des Vaters, spätestens aber mit seinem Einzug als Schlossherr konfliktbeladen. Bergmann erinnert sich, wie er nach dem Tod von Gräfin Eleonore deren Nachlass vom Speicher holt und Briefe zwischen Mutter und Sohn an Graf Erwein übergibt. „Die Mutter hatte das Recht auf Wohnen hier. Da ging es auch um die Küche, da hatte sie Probleme“, versucht Bergmann sich zu erinnern. „Nach einem Streit nutzte sie die Schlossküche nicht mehr, hatte dann ihre eigene Küche.“
So schlecht ist Matuschkas Verhältnis zur Mutter und zum eigenen Adelsgeschlecht, dass er im letzten Willen, im Abschiedsbrief an die Öffentlichkeit festlegt, dass die Verwandtschaft nicht zu seiner Beerdigung eingeladen werden soll: „Ich möchte in aller Stille beerdigt werden. Außer meiner über alles geliebten Jutta Nikolai und ihrer großartigen Familie, natürlich meiner lieben Tochter Francesca, meinem Freund Klaus Nieding … und allen Mitarbeitern, denen ich nochmals für ihre Loyalität und engagierte Arbeit danke, möchte ich niemanden an meinem Grab haben, keine Grabreden, keine Kränze … keine Nachrufe, keine Gedenkminuten. Bitte teilt dies allen mit!!!“
Aus diesem letzten Willen kann man erahnen, dass der Druck von Seiten der Familie groß gewesen sein muss. Vielleicht hätte Matuschka ja sogar mit Investoren, mit einem Verkauf des Stammsitzes leben können. Obwohl er auch erklärte, nicht als Grüßaugust auf Vollrads fungieren zu wollen. Es wäre ja auch nicht das erste Mal gewesen, dass so etwas in Deutschlands Adel vorkam, weiß Bergmann. Ob allerdings auch die Familie das konnte, ist die Frage.
Die Widersprüche spiegeln sich in der Person Matuschkas. Als ungemein menschlich, als aufmerksamen Arbeitgeber, bei langen Spaziergängen mit den Hunden immer offenen Ohres, hatte Bergmann den Chef stets kennengelernt. So verständnisvoll, dass der ihm die offenbar sehr tüchtige Anwältin der Gegenseite bei der Scheidung von seiner ersten Ehefrau empfiehlt, als Bergmann selbst vor der Trennung von seiner Frau steht.
Und doch zögert der Mensch Matuschka nicht, seine Lebensgefährtin, seine Tochter auf nicht eben friedliche Weise zu verlassen. Unbarmherzig. Gegenüber sich selbst und gegenüber seinen Nächsten, die er hinterlässt. Und das, um für kaufmännische Fehler zu bezahlen? Aus Enttäuschung über eine Bank? „Ich habe kaufmännische Fehler gemacht… Dafür muss ich bezahlen…. Ich bin erschüttert, dass dies (sein Sanierungskonzept, d. Red.) … mit der Einleitung des Konkursverfahrens beantwortet wurde ohne Vorankündigung“, klagt er im bereits zitierten Abschiedsbrief und alimentiert damit selbst die Schurkentheorie von der bösen Sparkasse.
An diese Schurkentheorie glaubt letztlich nicht einmal Bergmann, der treue Mitarbeiter, der aus Respekt vor dem letzten Wunsch des verstorbenen Chefs auch nicht am nachträglich von der Familie organisierten Trauergottesdienst teilnimmt: „Da gehören zwei dazu, würd‘ ich sagen“, kommentiert er die einseitige These trocken, weiß aber auch, dass er letztlich die Motive des Grafen nie verstehen wird. „In den Kopf kann man nicht reingucken. Ich weiß es nicht. Es bringen sich Leute wegen Kleinigkeiten um. Ich glaub’, dass es der große Druck war. Von der Familie, von der Öffentlichkeit. In der 27. Generation! Bei so einem alten Adelsgeschlecht! Als Weingraf. In der ganzen Welt bekannt.“
Dieser Artikel wurde zuerst in enos 2/2019 veröffentlicht.
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