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Platons Erbe im Tuff

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Es gehört zu den Grundlagen der europäischen Philosophie: Platons Höhlengleichnis, in dem er seinen Lehrer Sokrates von „Troglodyten“, den Bewohnern einer Höhle erzählen lässt, die ihr ganzes Leben unter der Erde gefangen verbrachten. Sie kannten nur ihre eigenen, von einem einzelnen Feuer an die Höhlenwand geworfenen Schatten und hielten nur diese für die Wirklichkeit. Erst wenn man diese Menschen zwangsweise mit der Welt außerhalb der Höhle konfrontierte, erkannten sie die wahre Beschaffenheit der Realität und sich selbst als Individuen und spürten kein Bedürfnis mehr, in ihr vormaliges Reich der Dunkelheit zurückzukehren. Mit diesem Gleichnis wollte Platon das Fortschreiten des Menschen von der sinnlichen Wahrnehmung zur Vernunft verdeutlichen.

Les troglos“, in Anlehnung an den bereits vor Platon von Herodot geprägten, in seiner ursprünglichen Entstehung jedoch bis heute ungeklärten Begriff der „Troglodyten“, nannten und nennen die Menschen am ungebändigten, nicht begradigten Unterlauf der Loire, des längsten Flusses des Grande Nation, das verborgene Universum der Tuffstein- und Muschelkalkhöhlen in ihren Hängen und Hügeln. In ihnen wurden keine Menschen zwangsweise festgehalten, so dass sie keine Chance hatten, die wirkliche Welt kennenzulernen. Statt dessen lebte hier bis noch vor wenigen Jahrzehnten die eher arme Bevölkerung der Region. „Caves demeurantes“, Wohnhöhlen, hießen die „troglos“ deshalb auch. Seither hat sich diese unterirdische Welt gewandelt: Kunst und Trash, Fastfood und Kulinarik, Hotels, Werkstätten und Weinkeller zogen zwischen Amboise und Angers ein. „Troglos“ sind heute neben den weltberühmten Loireschlössern und dem Weinbau mit seinen Spitzengewächsen aus Sauvignon und Chenin blanc sowie Cabernet franc eine der meistbeachteten Attraktionen der Region.

Unweit der alten Handelsstadt Saumur, Heimat und Namensgeberin eines der berühmtesten Schaumweine Frankreichs, hat der Bildhauer Philippe Cormand in jahrelanger, mühevoller Arbeit sein eigenes Kalktuffuniversum geschaffen. Aus dem gleichen Stein, aus dem viele der historischen Monumente des unteren Loiretals gebaut wurden, modellierte er in einer Höhle unweit Saumurs zahlreiche Repliken eben dieser Baudenkmäler. „Pierre et lumière“, Stein und Licht, hat er sein Gesamtkunstwerk genannt. Von der berühmten Abbaye de Fontevraud reicht der Bogen der Exponate über die Kathedrale in Tours, das romantische Dorf von Vieil-Baugé, das Uferpanorama von Chinon an der Vienne, die Städte Amboise, Trèves und Montsreau bis hin zur Klosterkirche von Cunault. Dass dabei etwa das Grundwasser der Höhlen beim Modell von Chinon perfekt den Wasserspiegel der Loire simuliert, verleiht dem Werk einen zusätzlichen Touch Authentizität. Das Grundwasser ist allerdings gelegentlich auch unerwünscht. Dann etwa, wenn starke Regenfälle oder ein hoher Pegelstand der Loire für Wassereinbrüche in den „troglos“ sorgen – diese sind dann allerdings nicht der überschwappenden Loire geschuldet, sondern drängen aus dem Untergrund nach oben.

Der Künstler Philippe Cormand, der auch in anderen Höhlen rund um Saumur seine künstlerischen Spuren hinterließ, modellierte für seine Ausstellung unter anderem das Dorf Montsoreau, das mit seinen knapp 500 Einwohnern als eines der schönsten Frankreichs gilt. Das dazugehörige Schloss aus dem 15. Jahrhundert thront an einer strategisch wichtigen Stelle zwischen Chinon und Saumur und war der Schauplatz des Romans „La Dame de Monsoreau“ von Alexandre Dumas. Cormand hat neben „Pierre et lumière“ auch Skulpturen in Disneyland bei Paris geschaffen und war sogar einmal Vizeweltmeister der Eisbildhauer.

Gleich zwei Mal ist das um 1100 gegründete Kloster von Fontevraud, in dessen Kirche Frankreichs erste „Weinkönigin“ Eleonore von Aquitanien begraben liegt, in „Pierre et lumière“ vertreten. Eigentlich handelt es sich bei Fontevrault – so die frühere Schreibweise – auch nicht um ein, sondern gleich um vier Klöster: eines für die Chorschwestern, die auch das zugehörige Hospital betrieben, eines für Laienschwestern, eines für die Nonnen einer Leprastation und eines, ein wenig abseits gelegen, für Mönche und Priester. Die in der Folge der französischen Revolution säkularisierte Anlage diente lange Jahre als Gefängnis und wurde kürzlich zu einem modernen Luxushotel mit Restaurant umgewandelt (wir berichteten).

Aus dem gleichen Kalktuff, in den man die Höhlen am Loireufer grub, wurden auch viele der Schlösser und Kirchen der Region erbaut, so auch die Kirche im Weiler Préban unweit Saumurs und die romanische Kathedrale des einstigen Klosters von Cunault nur knapp zwei Kilometer weiter flussabwärts. Der Name der Kirche in Préban, Notre-Dame de la Prée des Tuffeaux, geht auf die Auen zurück, die sich im Mittelalter hier, am Fuße der Tuffeaux ausdehnten, als das Flussbett der Loire noch weiter nördlich verlief. Berühmt sind vor allem die beiden Portale an der Nord- und der Ostseite der Kirche mit ihren feingliedrig in den Stein geschnittenen Rankenornamenten.

Notre-Dame de Cunault dagegen ist eine romanische Hallenkirche, das heißt sie besitzt drei fast gleich hohe Schiffe unter einem gemeinsamen Dach. Sie wurde Anfang des 12. Jahrhunderts erbaut und ist für ihre bemerkenswerten Kapitelle bekannt. Auffällig ist der Turm in der Mitte der Kirche, der sich nur relativ wenig über das Dach erhebt, was dem Bau ein fast gedrungenes Aussehen verleiht, vor allem, wenn man die Kirche von der Stirnseite her betrachtet.

Viele der Höhlen in der Gegend um Saumur sieht der Reisende erst auf den zweiten Blick. Teils mehrstöckige Häuser wurden vor ihren Fronten errichtet, die einen Zugang zum Höhleninneren bieten, dieses aber auch gleichzeitig nach außen abschotten und schützen. Besonders schöne Beispiele dafür kann man an der schmalen Uferstraße, der Départementale 947 südöstlich und der Départementale 751 nordwestlich von Saumur zwischen Montsoreau und Cunault entdecken. So auch in Turquant, dem kleinen 600-Seelen-Dorf unweit Montsoreaus, dessen Höhlen allerdings ansonsten eher für den Massentourismus hergerichtet wurden, Fast Food und Plastikmobiliar auf den Wiesen vor den Höhlen inklusive. Wirklich sehenswert sind in Turquant andere Bauwerke: Herrenhäuser, Kirchen und das Schloss La Fessardière etwa, von denen zahlreiche als historische Monumente klassifiziert sind.

Über all den historischen Monumenten könnte man fast vergessen, dass das Loiretal vor allem Weinland ist – die Heimat einiger der berühmtesten Weine Frankreichs. Die besten werden aus dem weißen Chenin und dem roten Cabernet franc gekeltert. Leider waren diese Weine lange Zeit außerhalb Frankreichs kaum bekannt. Der Pariser Markt absorbierte jahrhundertelang fast die gesamte Produktion des Tales, und an Export dachten nur die wenigsten. Das hat sich erst in den letzten Jahren geändert, und so langsam nimmt man auch in Deutschland wahr, wie großartig ein restsüßer Vouvray, ein dichter und eleganter roter Chinon, der Mythos Savennières Coulée de Serrant, ein fester, kraftvoller Saumur-Champigny oder auch die Schaumweine aus Saumur schmecken können.

Die für ihre Schaumweine berühmte Kellerei Bouvet-Ladubay hat die vielleicht gelungenste Synthese von Wein und Troglo-Kunst geschaffen. In ihren riesigen unterirdischen Hallen – aus denen die Produktion allerdings zum größten Teil verschwunden ist – ließ sie vom Künstler des „Pierre et lumière“, Philippe Cormand, Ornamente und Bauteile berühmter Loiremonumente reproduzieren. „La cathédrale engloutie“, die versunkene Kathedrale, heißt das Gesamtkunstwerk in der nordwestlichen Vorstadt von Saumur, in dem auch Weinveranstaltungen stattfinden. Auch in anderer Hinsicht hat man sich hier der Kunst gewidmet: Seit 1992 betreibt die Firma direkt gegenüber dem alten Hauptgebäude mit Eingang zu den Höhlen ihr Museum „Centre d‘Art Contemporain“, ihr eigenes Zentrum für zeitgenössischenKunst, und alljährlich im Sommer lädt man Frankreichs Kulturschaffende zu einem Festival der Literatur und des Weins ins romantische Saumur.

Nicht alles, was in den Höhlen des Loiretals aussieht wie Kunst, ist es auch. Häufig handelt es sich um Elemente der Originaldekoration alter Kirchen oder Schlösser oder um kleine Skulpturen, die „abfielen“, wenn – wie es im Mittelalter häufig geschah – alte Gebäude als „Steinbrüche“ für neue benutzt wurden. Darüber hinaus findet man im Tuffstein immer wieder auch natürliche Einschlüsse von fossilen Versteinerungen wie etwa die Reste der Ammoniten im Lagerkeller von Bouvet-Ladubay. Der Kalktuff der „troglos“ eignet sich wie kaum ein anderes Gestein zum Herausschlagen feiner und feinster Details. Neben dem ungewöhnlichen Ambiente, in dem sich die Miniaturen von „Pierre et lumière“ präsentieren, stellen diese Details den großen Reiz der Arbeit von Philippe Cormand dar.

Die „troglos“ der Loire beherbergen nicht nur aus Stein gehauene Kunstwerke. Richard Rak, Art-brut-Künstler, hat in den Höhlen seines „Manoir de la Caillère“ am Rande der Ebene von Coutures ein ganzes Labyrinth von Gängen und Räumen freigelegt, in denen er seine ungewöhnlichen, fast surrealistischen Kompositionen aus Malerei, Bildhauerei und Sammelei ausstellt. Die wirken in dieser Umgebung noch einmal deutlich eindrucksvoller als in der kleinen Stadtgalerie, die Rak zusätzlich zu seinem Höhlenmuseum im historischen Zentrum von Saumur, direkt hinter dem Rathaus, betreibt.

Chambre mystérieuse“ (geheimnisvolles Zimmer), „Pièce à conviction“ (Beweismittel), „Porte cachée“ (versteckte Tür) oder, nach der bekannten, jüngst zu eher trauriger Berühmtheit gekommenen Uferstraße in Nizza „La promenade des Anglais“ – die „promeneurs“, die Spaziergänger, tragen einen Schuhleisten anstelle des Kopfs – lauten die kriminalistisch-humoristischen Namen der Kunstwerke Raks.

Mystère des faluns“, Mysterium im Muschelkalk, nennt sich eine der spektakulärsten Höhleninstallationen der Region in Douée-la-Fontaine. Eigentlich handelt es sich dabei nur zum Teil wirklich um Höhlen, denn ein Großteil der Anlage wurde in Form eines offenen Steinbruchs in die Tiefe gegraben. Elefanten und Antilopen lebten hier vor zehn Millionen Jahren an der Küste eines Meeres, das von Walen und Haien bevölkert war. Unter dem Einfluss der Gezeiten lagerten sich schichtweise Sand, Kalk und die Reste der Fauna und Flora in Gestalt einer Unterwasserdüne ab. Die Menschen des 18. und 19. Jahrhunderts gruben bis zu 20 Meter hohe, kathedralenartige Galerien in diese Ablagerungen, um Baumaterial für ihre Städte zu gewinnen.

Nachdem die Höhlen lange eine Pilzzucht beherbergt hatten, wurden sie von den 1980er Jahren an sukzessive hergerichtet und für Besucher geöffnet. Heute bietet die Anlage nicht nur Gelegenheit zu einem faszinierenden, „vorzeitlichen“ Rundgang durch die Höhlengalerien, sondern beherbergt auch einen kompletten Kinosaal und eine kleine Unterkunft mit in den Muschelkalknischen eingerichteten Schlafplätzen.

Dieser Artikel wurde zuerst in enos 1/2017 veröffentlicht.
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