In Sizilien gehen die Uhren anders. Das wird dem Besucher spätestens dann klar, wenn er bei seinen Touren über die Insel zum ersten Mal auf einer der Provinzstraßen oder einer weniger bedeutenden Nationalstraße gelandet ist. Zyniker würden wahrscheinlich behaupten, die größte italienische Insel sei der perfekte Urlaubsort für Menschen mit gesteigertem Entschleunigungsbedarf. Tatsache ist: Auf den meisten Straßen im Hinterland zwischen Palermo und Catania stellt oft schon die halbe erlaubte Geschwindigkeit ein unkalkulierbares Risiko dar. Schlagloch reiht sich an Schlagloch, und wenn dann noch Schlammfluten nach den gelegentlich sintflutartig auftretenden Regenfällen hinzu kommen, wird die Sache wirklich gefährlich. Sollte da noch jemand mit mehr als 40 oder 50 km/h unterwegs sein, dann wohl nur, weil er möglichst schnell den illegalen Halden aus Müllsäcken und ganzen Kücheneinrichtungen entkommen will, die zahlreiche, vor allem kleinere dieser Landstraßen „verzieren“
Wer Siziliens Weinstraßen kennenlernen will, den interessieren weder Schlaglöcher noch Reisegeschwindigkeiten. Der sucht eher nach Weingütern und kulturellen Reminiszenzen, wie man sie etwa findet, wenn man an der Mosel nach römischen Keltern oder im Elsass nach mittelalterlichen Baumpressen Ausschau hält. Wenn man im Piemont oder in der Toskana jahrhundertealte Castelli mit enger Bindung zur lokalen Weinbaugeschichte besichtigt. Oder wenn man den Mönchen im Burgund, den Adelsfamilien im Bordelais nachspürt.
Eine solche Weinbaustraße, so heißt es, gebe es auch im Südwesten der Insel. „Strada del Vino Terre Sicane“ hieße sie, und sie sei so etwas wie die Materialisierung der Kulturgeschichte der Region in Form eines traditionellen Weinbaus mit autochthonen Rebsorten, etwa der Sorten Grillo oder Nero d’Avola. „Das Gemeinsame dieser ‚strada‘”, so hatte eine PR-Agentur informiert, sei „das Konzept des Autochthonen, des Einheimischen, das sich in der Geschichte und Kultur des Territoriums dekliniert“. Von daher wohl der Name mit Bezug zum alten Volk der Sikaner, der glauben machen soll, die Straße führe nicht nur zu den Protagonisten des aktuellen Weinbaus, sondern bis hin zu dessen weit zurückliegenden geschichtlichen Wurzeln. Zu dem nach Meinung von Historikern aus Iberien eingewanderten und nach ihrem sagenumwobenen ersten König „Sicano“ – für einige der Vater der Zyklopen – benannten Volk der Sikaner oder Sikanen, einem der mysteriösesten der Antike, das vor Ankunft der Sikuler alias Sikeler im Gefolge der griechischen Kolonisation den größten Teil der Insel besiedelt hatte.
Eigentlich also eine tolle Idee, den Wurzeln des Weinbaus nachzuspüren, die bis in die Zeit „Enotrias“, des „Weinlands“ der alten Griechen zurückreichen, und die Reminiszenzen durch eine „Strada del Vino“ im Südwesten Siziliens, nördlich der Städte Menfi und Sciacca zu verbinden. Eigentlich! Indes, wie im Falle der alten Sikaner gilt auch hinsichtlich der geschichtlichen Wurzeln des Weinbaus entlang dieser „Strada del Vino“: Nichts Genaues weiß man nicht!
Es gibt auch in diesem Teil Siziliens zahlreiche Sehenswürdigkeiten, wie die Abtei Santa Maria del Bosco oder den Lago Garcia, beide auf dem Territorium der Gemeinde Contessa Entellina gelegen. Mit Weinbau oder den Sikanern haben sie jedoch praktisch nichts zu tun.Klar, Weinbau gibt es in dieser Ecke Siziliens, wie auch in den meisten anderen Teilen der Region, zur Genüge. Nicht umsonst ist mit der Kellerei „Settesoli“ – „sette mesi di sole“, sieben Monate Sonne im Namen – einer der größten Produktionsbetriebe Italiens in Menfi beheimatet, und eine Handvoll kleinerer Betriebe hört auf Namen wie Donnafugata oder Planeta, die in der Weinwelt einen durchaus guten Klang besitzen. Die Palette kultivierter Rebsorten, die vom „einheimischen“ Nero d’Avola bis zu den „internationalen“ Chardonnay oder Merlot reicht, bietet genügend Spielraum, um eine interessante Weinpalette anbieten zu können. Was das aber mit den Sikanern zu tun hat?
Es ist die Frage, deren Beantwortung dem Besucher auf der „Strada del Vino Terre Sicane“ von Etappe zu Etappe schwerer fällt. Die Schwierigkeiten beginnen in Montevago im Nordwesten des Landstrichs, einem Ort, der von keinem der vielen Schicksalsschläge verschont geblieben scheint, unter denen die Mittelmeerinsel in ihrer jüngeren Geschichte zu leiden hatte. Fast überschlägt sich Calogero „Lillo“ Monteleone, genannt „Calia“ und seines Zeichens Lehrer im Ruhestand, beim Versuch, den aktuellen Zustand seiner einst bestimmt einmal lebens- und liebenswerten Gemeinde zu entschuldigen.
Nein, am desaströsen Erdbeben, das diesen Teil der Insel 1968 erschütterte, war niemand „schuld“. Die minutenlangen, heftigen Schläge hinterließen ein einziges Trümmerfeld und 100 Tote, zu denen Calia als kleiner Junge nur deshalb nicht zählte, weil seine älteren Schwestern, so erinnert er sich noch immer, einer Vorahnung folgend die Familie überredet hatten, aufs offene Feld zu gehen – die Älteren hatten der Weisheit der Mädchen leider nicht vertraut.
Ausschließlich menschengemacht war allerdings das, was die Gemeinde nach der Katastrophe erleiden musste. Anstatt das zerstörte Montevago – vielleicht in erdbebensicherer Bauweise – wieder aufzubauen, entschied man an den politischen Schaltstellen der Insel und der Nation, das zerstörte Dorf einfach aufzugeben, und ließ in einigen Kilometern Abstand ein gänzlich von historischen Reminiszenzen „befreites“ Montevago aus dem Boden stampfen. Die Ruinen überließ man sich selbst, und erst kürzlich, sage und schreibe 50 Jahre nach dem Beben, entschloss man sich – die reiche katholische Kirche in Rom hatte zuvor nur wenig Interesse gezeigt –, wenigstens die Fassade der großartigen Kathedrale im alten Ortskern zu restaurieren.
Das Urteil Lillo Calias über das neue Montevago im Stil der 1970er Jahre könnte vernichtender kaum sein: „Immergleiche Schuhkartons aus Beton als Wohnhäuser und vierspurige Autobahnen durch das quadratische Muster der 2000-Seelen-Gemeinde“, so beschreibt er seine neue Heimat, mit der er sich allerdings vor allem wegen seines großen Hobbys, der Volksmusik, trotz aller architektonischen und „stadtplanerischen“ Grausamkeiten immer noch verbunden fühlt. „I Viddaneddi della Valle del Belìce“, die Bauern des Belìce-Tals, nennt sich die Folkloregruppe, die es inselweit zu einer gewissen Bekanntheit gebracht hat.
Das katastrophale Bild des alten wie des neuen Montevago ist dabei nicht die einzige „Schandtat“ entlang unserer „Strada del Vino“. Wobei schon das „entlang“ ein Euphemismus ist. Im Grunde hat man den Eindruck, es sei gar nicht erwünscht, dass jemand auf dieser Straße den Weinbau im Land der Sikaner erkundet. Außer einem sporadisch auftauchenen Schild ohne Richtungs- oder Zielangaben, hilft dem Besucher nämlich fast kein Hinweis.
Die einzige Orientierung könnte von einer Karte auf der Internetseite „clicksicilia.com“ kommen, auf der die „Strada“ in Form eines „T“ eingezeichnet ist. Den Querstrich bilden die Provinzstraße 44 und die Staatsstraße 288 von Sambuca di Sicilia nach Montevago, den senkrechten die „Provinciale“ 41 und die Achse Sciacca-Palermo von Menfi im Süden bis zur erwähnten „44“ im Norden. Es sind Straßen, auf denen der Besucher nicht einmal zu den wenigen relevanten Weingütern der Region geleitet wird, geschweige denn zu Zeugnissen von Weingeschichte oder Weinkultur.
Schlimmer noch: Gemeinden wie das genannte Sciacca oder auch Contessa Entellina, die auf der Internetseite der „Strada del Vino“ als deren Hauptattraktionen ausgewiesen sind, liegen nach dieser Karte weitab von ihr, ganz wie auch der Garcia-See im Norden, die Abtei Santa Maria del Bosco am Monte Genuardo oder der dürre Pinienwald „Magaggiaro“ wenige Kilomenter nördlich von Menfi.
Nicht nur, dass in vielen dieser ausgelobten Sehenswürdigkeiten keine Spuren der Sikaner mehr zu finden sind. Auch mit Wein und Weinbau haben der Wald, der See, das südliche Küstenstädtchen Sciacca, das eher für Keramik und Korallenschmuck sowie für seine Olivenkulturen bekannt ist, wenig zu tun. Vom Städtchen Contessa Entellina aus – der Ort, der nach dem Erdbeben ähnlich modern-steril wiederaufgebaut wurde wie Montevago, besitzt zumindest am Rande seines ausgedehnten Gemeindegebiets einige Weinfelder und mit Donnafugata auch ein bekanntes Weingut – sieht man in weitem Umkreis nur Getreidefelder. Auch auf der zu Contessa gehörenden Abtei Santa Maria del Bosco hat man schon seit Jahrzehnten, wenn nicht gar Jahrhunderten keinen Weinbau getrieben.
Beim Gespräch mit Contessas Bürgermeister Leonardo Spera verstärkt sich dieser „weinferne“ Eindruck. Da ist wenig von Reben und Weinen die Rede, und das muss auch nicht verwundern, denn, wie Spera einräumt, macht der Weinbau nur einen kleinen Teil der Agrarökonomie seiner Gemeinde aus. Sein Interesse, und da liegt er mit dem Direktor der in Sambuca residierenden Weinstraßen-Vereinigung, Gori Sparacino, auf einer Linie, scheint deutlich mehr von politischen Seilschaften, Vernetzungen, EU-Subventionen und ähnlichem bestimmt als von Wein- oder Weinbaukultur.
Die Frage nach der Verbindung zwischen Weinbau und Kulturgeschichte bleibt wie viele andere unbeantwortet. „In che senso?“, in welcher Hinsicht, reagiert der sichtlich überforderte „Strada“-Direktor auf entsprechende Fragen. Schließlich und letztlich fällt ihm nur ein kleiner Weinberg im archäologischen Park von Selinunt, weitab von seiner „Strada“ ein, der von der Kellerei Settesoli bewirtschaftet werde. Warum man die Weinstraße denn nicht entlang eventueller kulturhistorischer Spuren des Weinbaus eingerichtet habe? „Gibt es nicht“, lautet die lakonische Antwort Sparacinos.
Recht hat er, und deshalb kann man eine fehlende derartige Verbindung letztlich weder Spera noch Sparacino vorwerfen. So etwas wie eine substanzielle historische Verbindung zwischen Kultur- und Weinbaugeschichte, auf deren Spuren man wandeln könnte, hat es in diesem Teil Siziliens nämlich überhaupt nicht oder zumindest nur in marginalen Dimensionen gegeben. Da ist Filippo Buttafuoco, der Agronom der Kellerei Settesoli, formell: „Früher gab es hier fast nur Baumwolle und Viehzucht – allenfalls das eine oder andere winzige Weinfeld. Die wenigen Trauben, die hier geerntet wurden, kelterte man auch nicht zu Wein – Ausnahme: ein gelegentlicher ‚vino dello zio‘, Wein des Onkels (oder Großvaters etc.), der den Weg in die Gläser der Familienmitglieder fand –, sondern stellte sie in Kisten am Straßenrand auf, in der Hoffnung, dass Händler aus Palermo oder Marsala vorbeikämen und die Trauben aufkauften.“ Unter rigidem Preisdiktat, versteht sich. 1958, als die Genossenschaft von Menfi, die erst Jahre später den Namen Settesoli annahm, gegründet wurde, hatte diese ganze 88 Mitglieder – heute sind es 2.000.
Auch was heute als Traditionsrebsorte gefeiert wird, der weiße Grillo, kann hier im Gebiet auf eine Geschichte von maximal 20, 30 Jahren zurückblicken, bei Settesoli wird sie sogar, glaubt man Buttafuoco, erst seit 15 oder 16 Jahren kommerzialisiert. Ihr Ursprung liegt gar im fernen Apulien. Nero d’Avola, das rote „Traditions“pendant, wurde immerhin schon in den 1960er Jahren eingeführt. Auch heute noch belegen die beiden aber nicht mehr als jeweils knapp zehn Prozent der Genossenschaftsflächen.
Traditionen? Kulturgeschichte des Weinbaus? Einheimische Rebsorten als Verkörperung der Wein- und Kulturgeschichte? Es scheint, als sei das Narrativ der „Strada del Vino Terre Sicane“ ein wenig zu vollmundig, mit heißer Nadel gestrickt worden – um nicht gleich das böse Wort vom Etikettenschwindel zu verwenden. Aber, wie gesagt: In Sizilien gehen die Uhren anders.
Dieser Artikel wurde zuerst in enos 4/2021 veröffentlicht.
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