Das gefährlichste Tier Neuseelands sei das Schaf, heißt es. Giftige Schlangen und Spinnen oder eine ähnlich furchterregende Fauna gebe es ja nicht. Aber … Schafe? Welche Schafe? Auch am dritten Tag auf den Landstraßen der Nordinsel sind weit und breit nur Rinder zu sehen. Kleine Gruppen, große Herden. Aber immer Rinder! Nur Rinder! Und noch etwas fällt auf: Auch von nennenswertem Weinbau gibt es hier kaum eine Spur. War nicht Neuseeland eines der bedeutenden Weinbauländer im Pazifikraum
Erst mit der Überquerung der stürmischen Cookstraße auf einer der riesigen Fähren, die die Verbindung von Wellington, der Hauptstadt, mit dem malerischen Picton, dem nördlichsten Hafen der Südinsel, sicherstellen, ändert sich das Bild. Und zwar gründlich. Es ist fast, wie in einem neuen Land anzukommen: Das Klima ist anders und wohl deshalb auch die Vegetation, die Landwirtschaft ist eine andere, und irgendwie hat man das Gefühl, auch die Menschen seien nicht vom selben Schlag.
Schafe gibt es zwar erst einmal immer noch nicht – die bevölkern nämlich vor allem den Süden und Osten der Südinsel. Dafür aber sieht man nach nur wenigen Kilometern Richtung Süden umso mehr Reben. Die gehören zur Region Marlborough, was sich dem Fremden allerdings nur mit Mühe erschließt. Zu unverständlich ist das genuschelte „Moabro“, das die Neuseeländer offenbar für ausreichend halten, um sich untereinander zu verständigen. Wie überhaupt das neuseeländische Englisch selbst für den Australien-, USA- und Südafrika-gestählten Reisenden ziemlich gewöhnungsbedürftig ist.
Neuseeländer sind freundlich, wissen die Reiseführer, wissen auch diejenigen, die es schon immer nach Neuseeland zog. Aber auch diese Freundlichkeit ist in gewissem Sinne gewöhnungsbedürftig. Schriftliche Bitten, das Weingut besuchen zu können? Nun ja, der Prozentsatz beantworteter Anfragen ist hier dann doch deutlich niedriger als in der restlichen Weinwelt. Oder das Einhalten verabredeter Termine? Auch das erscheint, gelinde gesagt, ausbaufähig. Kai Schubert, der Schwabe, der vor einigen Jahren nach Martinborough auf Neuseelands Nordinsel auswanderte, um sich hier seinen Traum einer Pinot-noir-Produktion auf Weltniveau zu erfüllen, hatte denn auch nicht zufällig im Interview mit enos (s. Ausgabe 2/2017) am meisten über das „Komm ich heut‘ nicht, komm ich morgen“ geklagt, das ihm die Eingewöhnung schwer machte.
Vielleicht gehören für die Kiwis Verbindlichkeit und Freundlichkeit ja auch einfach nicht so zueinander, wie man es in Mitteleuropa zumindest vom Anspruch her gewohnt zu sein glaubt. Auf jeden Fall hat die neuseeländische Freundlichkeit nichts mit der extrovertierten Überschwänglichkeit manch südeuropäischer Gesellschaft und auch nichts mit dem marketingaffinen Charmelächeln zu tun, das einem regelmäßig in der US-Gastronomie entgegenschlägt – vermutlich noch mindestens, solange Trump es nicht den Unternehmern erlaubt, Trinkgelder in die eigene Tasche zu stecken, anstatt sie ans Personal auszuzahlen.
Es ist eine eher in sich ruhende Freundlichkeit. „Tu mir nichts, dann tu ich dir auch nichts!“ Wobei es in einem Land, das fast so lang ist wie Deutschland, aber nur so viele Einwohner hat wie die Metropolregion Berlin, ohnehin immer wieder erstaunt, dass man überhaupt ständig auf Menschen trifft.
Über einen Mangel an Rebflächen kann man sich dagegen in Marlborough, der Region, zu der der Fährhafen Picton gehört, nicht beklagen, wie ja auch Neuseeland unter den größeren Weinbaunationen der Welt wohl diejenige mit der größten Rebfläche pro Kopf der Bevölkerung ist. Beim Anblick der riesigen Weinfelder in der Flussebene des Wairau River wird jedenfalls sichtbar, weshalb Marlborough mit seinen Trauben für gut 80 Prozent der gesamten Weinproduktion des Landes sorgt. Dabei ist Blenheim, der Hauptort des Gebiets, nicht einmal ein richtiger Weinort. Die Güter liegen fast alle wie Perlen aufgereiht außerhalb des kleinen, beschaulich-langweiligen Verwaltungssitzes an der Staatsstraße 63, die von hier aus nach Westen führt.
Wer Weintourismus in Vollendung erleben will, kann bei Cloudy Bay unweit Blenheims einkehren, jenem Weingut, das Neuseelands Sauvignon blanc in den 1990er Jahren in aller Welt bekannt machte. Hier warten ein gut ausgestatteter, moderner Verkostungsraum, jede Menge Hospitality-Profis und sogar eine Picknickwiese mit Austernbar unter großen Eukalyptusbäumen auf die Besucher aus aller Welt.
Wer dagegen mehr Wert darauf legt, die Menschen Wer dagegen mehr Wert darauf legt, die Menschen des Landes kennenzulernen, der fährt einige Kilometer weiter nach Westen bis an den Ortsrand von Kenwick. Hier residiert – noch, muss man sagen, denn ein Umzug talaufwärts ist fest geplant – Kevin Judd, ein wahrhaft bemerkenswerter Weinmacher. Judd war 25 Jahre lang der Önologe auf Cloudy Bay, verließ den Betrieb, dessen Weine er groß gemacht hatte, dann aber, weil ihm die strategische, „globalisierte“ Ausrichtung unter dem neuen Eigner, dem französischen Luxusagglomerat Moët Hennessy – Louis Vuitton, nicht mehr passte.
Bei Judd ist man sich nicht sicher, ob er nun stolzer auf seine Weine oder auf seine fotografische Arbeit ist. Immerhin hat der begnadete „Knipser“ schon einige Bildbände – meist mit Landschaftsfotografien aus den Weinbauregionen, aber auch ein Buch über die Hunde der Weingüter ist dabei – veröffentlicht, und auch sein kleines Büro zieren großformatige eigene Fotos. Dabei braucht Judd seine auf den ursprünglich aus dem deutschen Harz stammenden Namen „Greywacke“ – auf deutsch Grauwacke, ein graugrüner Sandstein – getauften Weine keinesfalls zu verstecken. Die stehen da wie eine Eins, und das gilt im Unterschied zu so vielen neuseeländischen Produkten auch für lange Jahre gereifte Exemplare, allen voran ein mit Spontanhefen vergorener Sauvignon blanc, der Chardonnay und der Grauburgunder, vornehm als Pinot gris etikettiert.
Auf der Fahrt von Blenheim nach Westport wird es nach dem Ende der kilomenterweiten Weinfelder schnell alpiner. Für die Holzproduktion angelegte Nadelwälder dominieren die Berghänge, der wilde obere Flusslauf, nach dem Überqueren der Wasserscheide abgelöst vom noch wilderen Buller River mit seinen spektakulären Schluchten, lässt an europäische oder nordamerikanische Gebirgslandschaften denken. Oder auch an die Filme Peter Jacksons, der vor allem auf der neuseeländischen Südinsel die idealen Locations für seine „Hobbit“- und „Herr der Ringe“-Trilogien fand. Von jetzt an geht die Reise durch Tolkien-Land, durch Mittelerde.
Klar, auch auf der Nordinsel gibt es Landschaften, die den Jackson-Filmen als Schauplätze dienten, aber das sind eher vereinzelte Flecken. Hier auf der Südinsel dagegen scheint man an jeder Wegbiegung, hinter jedem Hügel und am Ufer jedes Sees direkt in der Filmkulisse zu landen, selbst wenn dort in Wahrheit vielleicht nie eine einzige Szene der Tolkienschen Sagen gedreht wurde.
Das fängt schon ganz im Norden der Südinsel an, kaum eine Autostunde vom Fähranleger in Picton entfernt. Dort fließt der Pelorus River durch eine Schlucht, die von einer der vielen einspurigen Brücken des Landes überquert wird. Unterhalb der als gefährlich gekennzeichneten Querung hat Bilbo Beuthien bei Jackson die Zwerge in „Smaugs Einöde“ in Fässern den Fluss hinunter geschmuggelt. Klar, Brücke und Straße muss man sich vor dem inneren Auge genauso wegdenken wie die schwimmenden und paddelnden Touristen. Aber ansonsten kann man die mystische Stimmung der Filme hier fast physisch spüren.
Zurück zum Buller River. 18 Monate wie einst Thomas Brunner, seines Zeichens Landvermesser und Entdecker und der erste Europäer, der sich 1846 hier flussabwärts wagte, braucht der moderne Reisende nicht mehr. Selbst wer nicht die gut ausgebaute Staatsstraße benutzt, sondern sich den vielen Kanu- und Kajakfahrern anschließt, die zwischen Stromschnellen und leuchtend weißen Sandbänken ihren Weg suchen, dürfte das schneller schaffen. Das blau glänzende Wasser des Flusses ist übrigens keinem Trick der Filmindustrie geschuldet, sondern ein Effekt, der bei vielen neuseeländischen Flüssen und Seen durch den angespülten feinen Gesteinsabrieb vom Grunde der Gletscher hervorgerufen wird. Das reflektiert das Sonnenlicht nämlich in ganz besonderer Weise.
Kurz bevor der Buller die Westküste erreicht, schlägt das Klima wieder um. Nur ein, zwei Kurven braucht es, und die alpine, vom arktisch-kalten Südpazifik beeinflusste Flora weicht der üppigen, etwa von der Coromandel-Halbinsel nahe Aucklands bekannten, tropisch wirkenden Vegetation mit ihren typischen hohen Baumfarnen. Es ist ein Wechsel, der die Reise durch Neuseelands Südinsel ständig begleitet, sobald sich die alpinen Täler zur wärmeren Tasmanischen See hin öffnen. Und das gilt selbst in unmittelbarer Nähe der zahlreichen blauschimmernden Gletscher, deren bekanntester und küstennächster auf den nicht wirklich neuseeländisch klingenden Namen Franz Josef hört.
Meer, Berge, Seen – die Straße, die hier an der Westküste weiter nach Süden führt, mäandert immer wieder zwischen den Landschaften und Klimazonen. Dann plötzlich, nach Gletschern, „Pfannkuchen“-Felsen und schönen Stränden wieder im Inland, öffnet sich die Landschaft zu Lake Wanaka, dem drittgrößten See der Südinsel. Otago, genauer gesagt Central Otago ist erreicht, für viele Weinfreunde das eigentlich spannende Ziel jeder Neuseelandreise.
War der in den 1980er Jahren aufgeblühte Weinbau in Marlborough schon relativ jung, so ist der zwischen Queenstown, der Tourismus-„Metropole“ der Insel, und Mount Cook im Norden angesiedelte sprichwörtlich noch gar nicht aus den Windeln heraus. Gerade mal seit 15, 20 Jahren Jahren gibt es die heutigen Weingüter, und das, obwohl der Franzose Jean Desire Feraud hier bereits um 1860 erste Reben setzen ließ.
Dass der Weinbau und die Magie von Mittelerde hier untrennbar zusammen gehören, wird aus der Luft am besten deutlich. Tom heißt der Pilot der kleinen Cessna, die von Queenstown aus zum Rundflug über Central Otago Mittelerde startet. Tom ist nicht nur Pilot, sondern auch ein genauer Kenner der Tolkienschen Traumlandschaften, die er auf vielen Flügen für Regisseur Jackson kennengelernt hat. In der Schlucht des Kawarau River – hier wurde das Bungee-Springen erfunden – geht es Richtung Osten. Den Kawarau hinunter paddelte auch die Gefolgschaft des Rings, aber wer in der Landschaft nach markanten Details aus den Filmen sucht, könnte enttäuscht werden. Die entstanden nämlich zumindest teilweise erst am Computer und wurden in die Aufnahmen der tatsächlichen Szenerie hineinmontiert.
Erste, kleine Rebflächen werden zwischen den Sandbänken und Felshängen sichtbar. Gibbston heißt dieser Weinbaubereich, und wären die sehr guten Rotweine aus den Pinot-noir-Trauben dieser Rebzeilen so spektakulär wie ihr Anblick aus luftiger Höhe, sie hätten wohl weltweit kaum wirkliche Konkurrenz zu fürchten.
Über Bannockburn, Cromwell, Bendigo, Pisa und Wanaka „whiskied“ die Cessna in einer großen Schleife nach Norden, dann nach Westen zum Mount Aspire, um schließlich über den Lake Wakatipu wieder nach Queenstown einzuschweben. Wer Tom aufmerksam zuhört, kann viel über die Landschaft lernen. Über Felsstürze, die ganze Bergseen neu entstehen ließen, über Erdbeben, die die Topografie veränderten, und natürlich über die schönsten Stellen, an denen die Tolkien-Sagen verfilmt wurden. Zu denen gehört auch Glenorchy am Nordzipfel des Lake Wakatipu, wo Gletscherzuflüsse eine bizarre weiß-türkis-rote Szenerie geschaffen haben.
Eigentlich bräuchte man Monate, wenn nicht Jahre, um die faszinierende Landschaft – ganz gleich ob mit oder ohne Reben – der neuseeländischen Südinsel auch nur ansatzweise kennenzulernen. Viel zu schnell vergehen die kurzen Ausflüge nach Glenorchy, wo sich Frodo, Faramir und die Olifanten vor der Kamera verewigten, ins nahe Paradise, den Ort, wo Jackson Isengard entstehen ließ, oder auch zu den zahlreichen Wasserfällen des Fiordland-Nationalparks, an die Ufer des Lake Te Anau und die geheimnisvollen „Mirror Lakes“, die Spiegelseen. Te Anau ist auch der Ausgangspunkt zu einer der denkwürdigsten Exkursionen, die die Südinsel bietet. Über den Holyford Track geht es in knapp zwei Stunden zum 15 Kilometer langen Milford Sound, der sich von der Tasmanischen See bis nahe an die Gipfel der Neuseeländischen Alpen schiebt. Klar doch, auch die spektakulären Wasserfälle an seinen Ufern waren Schauplätze von Filmszenen, übrigens nicht nur für Tolkien-Trilogien.
Der lange Rückweg über die grandiosen Lake Pukaki und Tekapo aus Mittelerde zurück in unsere reale Welt, sprich ins ur-britisch wirkende Christchurch am – wie könnte es anders sein – River Avon, pardon Avon River, bietet dann ausgiebiger Gelegenheit, sich dem Weinbau Central Otagos zu widmen. Wieder geht der Weg von Queenstown aus durch die Schluchten des Kawarau River, vorbei an Cromwell, an den Weinbergen von Bannockburn und schließlich ans Ufer von Lake Dunstan, einem jener Stauseen, die entlang der Abflüsse der Gletscher und Gletscherseen angelegt wurden und die dem Weinbau Wasser, der restlichen Bevölkerung Energie liefern.
Ata Mara bedeutet in der Sprache der Maori so viel wie Morgengarten. Zu seinem Namen kam das Weingut – wenn man es denn so nennen will –, weil die Weinberge viel Morgensonne genießen und weil David Pratt, zusammen mit Janiene Bayliss Eigner des Gutes, ein begeisterter Gärtner ist. Ata Mara gehört quasi zu den Antipoden der auf Hochglanz polierten Marlborough-Güter vom Schlage Cloudy Bays, und fast könnte man hier glauben, dass neuseeländische Weingüter umso bessere Weine machen, je unscheinbarer, ja fast provisorischer sie wirken. Das war bei Kai Schubert auf der Nordinsel schon ein wenig so, es setzte sich bei Kevin Judd fort und erlebt hier seine Apotheose.
Zwischen Cromwell und Mount Pisa wird der Wein nicht am Hochglanztresen, sondern in der Garage verkostet, die allerdings schon lange keine Autos mehr beherbergt, sondern eher als Rumpelkammer des Paares Pratt und Bayliss fungiert. Den Glanz, den dieses „Weingut“ nicht zu liefern vermag, verströmen dessen Weine dann aber umso deutlicher. Ja, es gibt hier auch Riesling und, man höre und staune, sogar Grünen Veltliner. Aber die Stars von Ata Mara sind ohne Zweifel die jungen und alten Jahrgänge des roten Burgunders: feingliedrig, aromatisch, mit einer erstaunlichen Alterungsfähigkeit, wie zehn und mehr Jahre alte Flaschen beweisen, aus denen Pratt ausschenkt.
Von einem großen US-Finanzier war bei der Ankunft in Auckland die vollmundige Ankündigung zu lesen, dass er im neuseeländischen Weinbau investieren wolle, um der Welt zu beweisen, dass das Land mehr als nur dünnen Sauvignon blanc hervorbringen könne. Mit Sicherheit hat der Mann mit dieser „Welt“ eines gemeinsam – keine Ahnung von dem, was die Weingüter aus Mittelerde vor allem mit ihren Pinots wirklich zu leisten imstande sind. Sonst hätte er sich sein eingebildetes Geplapper gespart.
Dieser Artikel wurde zuerst in enos 1/2018 veröffentlicht.
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